Was ist das Problem?

Erschaffung Adams

Nach „Was ist Gott?“ und „Was ist der Mensch?“ kommt nun „Was ist das Problem?“
Predigt, gehalten am 21. Oktober in St. Markus

 

Was ist das Problem?

Liebe Gemeinde, manche wissen es ja: Im August habe ich eine Mini-Predigtreihe gehalten aus zwei Predigten. Die Titel: „Was ist Gott?“ und „Was ist der Mensch?“

Und jetzt also: „Was ist das Problem?“

Ich will ganz kurz die Kernaussagen meiner August-Predigten noch einmal aufgreifen. Gott, so glaube ich, ist kein höheres Wesen, das irgendwo in einem Jenseits thront. Gott ist vielmehr die Tiefe des Lebens, das Geheimnis der Welt, das Sein selbst. Und der Mensch? Wir Menschen sind Gottes Kinder, das heißt, in der Tiefe unseres Seins sind wir eins mit Gott.

Wenn das stimmt, wenn wir wirklich eins sind mit Gott, was ist dann das Problem? Dann sollte uns doch nichts auf der Welt irgendetwas anhaben können, nichts sollte uns Angst machen, und außerdem sollte es zwischen uns keinerlei Probleme geben, denn dann sollten wir doch lauter Liebe sein, denn es heißt doch: „Gott ist die Liebe.“

Aber so ist es bekanntlich nicht, wir brauchen ja nur in den Spiegel zu schauen, oder wir brauchen uns ja nur umzusehen in der Welt. Und da sind wir beim Problem.

Das Problem ist, dass wir eben nicht reine, lautere Liebe sind. Das Problem ist, dass wir nicht frei sind, dass uns oft genug die Angst beutelt, die Wut, der Hass. Das Problem ist, dass wir Menschen eben offenbar nicht in Frieden und Eintracht zusammenleben können und dafür sorgen, dass es allen gut geht. Wie kann das sein, wenn wir doch Gottes Kinder sind?

Die Bibel und die christliche Tradition haben auf diese Frage eine klare Antwort: Es ist etwas dazwischengekommen, und zwar – die Sünde.

Und jetzt vergessen Sie dieses Wort bitte ganz schnell wieder, denn das, was wir heute zu diesem Wort assoziieren, hat mit der ursprünglichen Bedeutung so wenig gemeinsam, dass wir es am besten gar nicht mehr verwenden.

Was damit gemeint ist, ist ganz einfach die Trennung, die Ent-zweiung. Wir sind nicht mehr eins mit Gott, wir sind ent-zweit. Wir erleben uns als abgetrennte, isolierte Individuen, herausgefallen aus der ursprünglichen Einheit in die Zweiheit. Wir erleben alles in Polaritäten, zu allem, was wir kennen, gibt es ein Gegenteil: warm und kalt, hoch und tief, nah und fern, groß und klein, Liebe und Hass und, ja: gut und böse.

Und das ist nicht unser individuelles Verschulden. Das, was die Bibel mit Sünde meint, also die Entzweiung, die Trennung, hat ursprünglich mit Verschulden, mit Schuld gar nichts zu tun, das sind zwei Paar Stiefel. Für die Entzweiung können wir nichts. Wir müssen einatmen und ausatmen, wir müssen schlafen und wachen, wir müssen uns öffnen und verschließen. Die Zweiheit gehört zu uns, solange wir auf dieser Erde leben. Allein die Tatsache, dass wir eingezwängt sind in drei beziehungsweise vier Dimensionen, allein diese Tatsache bedingt, dass wir uns nicht als das Eine, als das Große Ganze erleben können, das wir im tiefsten innersten Kern sind.

Ab und zu gibt es Menschen, die das doch erleben, diese Einheit. In Augenblicken der mystischen Verschmelzung, in Momenten der Erleuchtung, wie man das dann nennt. Manche dieser Menschen werden als Heilige bekannt oder als erleuchtete Meister, andere bleiben mit ihrer Erfahrung für sich, weil sich eine solche Erfahrung gar nicht gut in Worten ausdrücken lässt.

Für uns, die Mehrheit, bleibt die Erfahrung, dass wir getrennt sind. Individuen, die  überleben wollen und die sich deswegen oft genug gegen die anderen absetzen, die sich abspalten, die sich selbst der Nächste sind. Und eben nicht reine, lautere Liebe.

In unserem innersten Kern, in unserem tiefsten Sein, in unserem wahren Wesen, da sind wir Liebe, nichts als Liebe. Da sind wir eins mit Gott und mit all unseren Mitmenschen und mit der gesamten Schöpfung. Aber nur da.

Die Frage „Was ist das Problem?“ kann ich also in einem ersten Anlauf so beantworten: Das Problem ist, dass wir uns als abgetrennte Individuen erfahren, die in eine Welt der Zweiheit hineingeboren wurden, in eine Welt, in der es hoch und tief gibt, laut und leise, mich und dich, gut und böse, warm und kalt. Alles hat sein Gegenteil, und das Schöne daran ist: Zwar kann kein Mensch ganz und gar gut sein, wir sind immer auch böse. Es kann aber auch kein Mensch ganz und gar böse sein, wir sind immer auch gut. Und zu Gut und Böse werde ich später noch etwas mehr sagen.

Jetzt aber erst einmal die gute Nachricht: Das Problem besteht ja nur in der Welt der Zweiheit, der Ent-zweiung. Im tiefsten Kern sind wir gar nicht abgetrennt. Im tiefsten Kern gibt es also gar kein Problem.

Es gibt kein Problem zwischen Gott und uns.

Deswegen gibt es in der Bibel so viele wunderbare Zusagen. Etwa im Buch Jeremia: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Oder ein Gedanke von Paulus, aus dem Römerbrief: „Ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch (unsichtbare) Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges … weder Hohes noch Tiefes, noch sonst irgendetwas in der ganzen Schöpfung uns je von der Liebe Gottes trennen kann, die uns geschenkt ist in Jesus Christus, unserem Herrn.“ (Röm 8,38 NGÜ)

Von Gottes Seite her besteht kein Problem. Paulus kann sagen: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ – denn Gott ist längst versöhnt, mehr noch: Gott war nie unversöhnt. Nur wir müssen uns versöhnen lassen, wir müssen es kapieren, dass Gott keinen Unterschied macht zwischen drinnen und draußen, zwischen geliebt und abgelehnt. Im Evangelium, diesem Abschnitt aus der Bergpredigt, haben wir es vorhin gehört: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Darin besteht die Vollkommenheit Gottes, dass er keinen Unterschied macht zwischen Guten und Bösen, zwischen Gerechten und Ungerechten.

Ja, aber!

Gibt es nicht in der Bibel auch ganz viele Sätze, in denen vom Zorn Gottes die Rede ist, von Strafe, von Verdammnis? Heißt es nicht in ebendem Kapitel aus der Bergpredigt: „Wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig“? Und heißt es nicht auch in der Bergpredigt: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind‘s, die ihn finden“?

Ja, solche Sätze gibt es zuhauf, und sie scheinen ja geradewegs dem zu widersprechen, was ich eben gesagt habe. Da scheint es eben doch ein Problem zu geben, ein massives Problem zwischen Gott und den Menschen. Was machen wir denn mit all den Gerichtsworten, mit all dem Heulen und Zähneklappern, mit all den Strafandrohungen?

Ich glaube, hier müssen wir wirklich genau hinsehen, wie wir mit der Bibel umgehen. Und wie wir die Bibel heute verstehen können und müssen.

Ich verstehe es so: Die Bibel ist nicht in dem Sinn Heilige Schrift, dass der Heilige Geist den biblischen Autoren direkt ins Ohr gesagt hätte, was sie schreiben sollen. Die Bibel ist Heilige Schrift in dem Sinn, dass in ihr Menschen ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben haben. Und die Menschen, die die Bibel geschrieben haben, lebten in der Antike. Sie hatten ein Bewusstsein und eine Vorstellungswelt, wie sie heute vielleicht die Taliban haben, um es ganz drastisch zu sagen. Für sie gab es ganz klar dieses Drinnen und Draußen, dieses Gut und Böse, dieses Gerettet und Verloren. Und klar war: Drinnen sind wir, die andere sind draußen. Gut sind wir, die andere sind böse. Gerettet sind wir, verloren die anderen. Und so haben sie auch ihre Erfahrungen mit der tiefsten Wirklichkeit gedeutet, die wir Gott nennen.

Sie konnten das nicht anders. Sie lebten in einer Welt, in der die Todesstrafe eine Selbstverständlichkeit war, in der Eltern ihre Kinder selbstverständlich schlugen, in der Krieg eine ständige Realität war.

Wir haben heute andere Maßstäbe. Wir haben die Todesstrafe abgeschafft und verstehen den Justizvollzug nicht als Strafe oder Rache, sondern als Versuch der Resozialisierung. Wir haben einen Paragrafen im Strafgesetzbuch, der die körperliche Züchtigung von Kindern verbietet. Und wir denken heute anders über Gut und Böse. Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft nicht zwischen uns und den anderen, sie verläuft mitten durch uns hindurch. Niemand von uns ist ganz gut, niemand ist ganz böse. Wo verläuft dann die Trennlinie? Wird die Person eingelassen zum Festmahl Gottes, die zu 51 Prozent Gutes getan hat – und wird derjenige ins ewige Höllenfeuer gesteckt, der nur 49 Prozent geschafft hat? Das ist doch absurd. Wir können Menschen nicht mehr so einfach einteilen in Schwarz und Weiß, wir sind doch alle mehr oder weniger grau-kariert.

Ich sage es noch einmal, etwas kühn: Wir haben die Todesstrafe abgeschafft aus ethischen Gründen. Wir haben die körperliche Züchtigung abgeschafft aus ethischen Gründen. Sollte Gott ethisch weniger hoch stehen als wir Menschen? Sollte unser ethisches Urteil differenzierter sein das das von Gott? Sollten wir Menschen davon, wie die Gene einen Menschen bestimmen, wie Erziehung und Lebensumstände den Charakter eines Menschen formen – sollten wir Menschen davon mehr verstehen als Gott?

Ehrlich gesagt: Ich traue es Gott durchaus zu, dass er noch sehr viel mehr Verständnis hat als ich, dass sein ethisches Urteil sehr viel differenzierter ist  und sehr viel höher steht als meins. Ich bin mir gewiss, dass Gott sehr genau sieht, wie es dazu kommt, dass der eine ein Massenmörder wird und der andere ein Wohltäter der Menschheit.

Mit anderen Worten: Ich glaube, die Vorstellung, dass Gott irgendeinen Menschen bestraft für ir-gend­etwas, und sei es das schlimmste Verbrechen – ich glaube, diese Vorstellung ist zeitgebunden. Und dass wir uns, wenn wir die Bibel verstehen wollen, klar machen müssen, unter welchen Umständen und in welchem Bewusstsein die Menschen lebten, die die Bibel aufgeschrieben haben.

Ich würde nicht sagen, dass wir es heute besser wissen. Ich würde sagen, wir haben heute ein differenzierteres und ein komplexeres Verständnis von Welt und Mensch, als es die Menschen damals hatten, und demzufolge ist für uns ein weiteres und offeneres Gottesbild angemessener.

Gott straft nicht. Gott weiß doch, dass wir in der innersten Tiefe nichts sind als lauter Liebe. Nein, Gott wird uns nicht strafen, wenn die Trennung einmal aufgehoben ist und wir heimkehren zu ihm, wenn wir eingehen ins Große Ganze. All unsere Angst, all unsere Egozentrik, ja: all unsere Bosheit wird einfach wegschmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn wir in die Gegenwärtigkeit von Gottes Liebe eingetaucht sind.

Was also ist das Problem? Solange wir in dieser Welt der Entzweiung leben, können wir die lautere Liebe, die wir sind, nur in Ansätzen verwirklichen. Wir sind immer wieder gebeutelt von Angst, wir grenzen uns ab, wir schauen auf unseren Vorteil, wir unterscheiden zwischen Freund und Feind. All das ist unvermeidlich. Aber in der tiefsten Tiefe, im innersten Kern, in unserem wahren Sein und Wesen gibt es kein Problem. Gott ist uns gut, immer und unter allen Umständen. Und je mehr diese Gewissheit unser Leben und Empfinden bestimmt, desto eher sind wir vielleicht in der Lage, diese reine, lautere Liebe, die wir im Innersten sind, hinausstrahlen zu lassen in die Welt. Nie ganz  und rein, aber immer wieder mal ein bisschen mehr.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in  Christus Jesus, unserem Bruder, dem Herrn.

 

Autor: tilmannhaberer

geboren 1955, Krisen- und Lebensberater, evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger, systemischer Berater, zwischendurch mal sieben Jahre als freiberuflicher Schlussredakteur und Übersetzer (u.a. Richard Rohr, Suzanne Zuercher, Ken Wilber) unterwegs gewesen, Autor von Sachbüchern (u.a. "Gott 9.0") und Romanen.

5 Kommentare zu „Was ist das Problem?“

  1. Zum Thema Gut und Böse würde ich gern noch einen Schritt weiter gehen wollen in Richtung grundlegendes Gut-sein. Auch ein Verhalten, welches auf den ersten Blick böse zu sein scheint, ist im Kern meistens eine Überlebensstrategie oder eine automatische Reaktion aus dem Stammhirn, welches aufgrund unbewältigter Traumata in den Kampfmodus geht. Der zivilisierte Verstand wird eben oftmals von älteren Hirnregionen „gekapert“, solange traumatische Altlasten nicht integriert sind. Sogar im Sadismus kann grundlegendes Gut-Sein entdeckt werden – im Sinne einer Überlebensstrategie und als Kompensation extremer Ohnmachts-Erfahrungen.

    Like

    1. Ich finde das sehr gut, dass Du diesen wichtigen Aspekt betonst. Ich sehe das genauso und zwar aus eigener Erfahrung, im Sinne einer bewältigten Traumabiographie und eines postraumatischen Wachstums.

      Like

  2. Die Schwierigkeit ist für mich, zu unterscheiden, was in der Bibel als damals zeitgemäß, heute aber nicht mehr zu akzeptieren ist und dem, was für uns heute von unbedingter Bedeutung (wie etwa aus dem Buch Jerimia oder den Römerbrief) ist. Ist es richtig, sich zuerst zu fragen, was ist aus meiner Sicht richtig, oder sollte ich erst die Heilige Schrift lesen und die Worte bedenken, was aber zur Verwirrung führen kann ?

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten