Was ist Gottesdienst?

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Gottesdienst in St. Markus, München, am 10. Januar 2021

Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.

Liebe Gemeinde,

was ist Gottesdienst? Was für eine Frage! Das ist doch klar, vorhin habe ich es ausdrücklich formuliert: „Wir hören Worte aus der Bibel, wir singen und beten und teilen gemeinsam die große Hoffnung.“ Und in Zeiten, in denen das möglich ist, kommt noch dazu: „…und wir teilen miteinander das Mahl der Versöhnung.“

Also, Gottesdienst, das ist die Versammlung einer gewissen Schar von Christen, von Glaubenden oder Suchenden, meistens am Sonntag, meistens am Vormittag, eine Stunde oder anderthalb. Musik, Lesungen, Gebete, Lieder, eine Predigt, eine Abendmahlsfeier.

Auch Martin Luther sagt es ähnlich. Im Gottesdienst geschehe nichts anderes, „denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“

Soweit alles klar.

Und gleichzeitig spricht Paulus in dem Abschnitt aus dem Römerbrief, den ich eben gelesen habe, noch von etwas ganz anderem: „Ich ermahne euch nun … dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“

In der Neuen Genfer Übersetzung, die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde, hört sich das folgendermaßen an: „… dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf.“

Dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt.

Das ist starker Tobak. Mit dem ganzen Leben. Auf der anderen Seite: Welche Teile unseres Lebens würden wir Gott denn nicht so gern zur Verfügung stellen?

Der katholische Theologe Fridolin Stier berichtet von einem Traum, in dem Gott zu ihm in seine Studierstube kommt. Stier ist – im Traum – höchst erschrocken und fragt: „Was willst du?“ Die Antwort besteht aus einem einzigen Wort. „Dich!“

Mich will Gott, und dich und dich. Ganz. Mit Haut und Haar. Mein ganzes Leben und dein ganzes Leben.

Gruselt es dich da ein bisschen bei diesen Worten? Dann kann es sein, dass dir ein falsches Bild von Gott nahegebracht wurde.

Ich leihe mir ein Bild von Jesus, eins, das er oft und gern gebraucht hat: das von Braut und Bräutigam. Wünscht sich die Braut nicht, vom Bräutigam gewollt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar? Sehnt sich der Bräutigam nicht danach, von seiner Braut begehrt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar?

Von Martin Luther stammt auch dieses Bild: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da  reichet von der Erde bis an den Himmel.“ Und diese Liebe, diese glühende, verzehrende Liebe, die will uns ergreifen.

Und seltsam, vielen wird bei dieser Vorstellung ein bisschen mulmig: dass die glühende, verzehrende Liebe mich ergreifen will, mich durchstrahlen, mich ausglühen, mich in Flammen setzen.

Wer bin ich denn? So mag sich manche und mancher fragen. Wer bin ich denn, dass ich so eine große Liebe verdient hätte?

Nun, verdient hast du die Liebe Gottes ebenso wenig oder ebenso viel wie ein Kind die Liebe seiner Eltern verdient. So ein Neugeborenes macht ja nichts als Arbeit – es weckt die Eltern zu nachtschlafender zeit, es schreit, es will gefüttert, gewickelt, gewiegt und angesprochen werden. Es kann gar nichts machen – außer in die -windeln, und das bedeutet wieder Arbeit für die Eltern. Und trotzdem – wenn alles gut verläuft – lieben die Eltern ihr Kind wie verrückt. Einfach, weil es da ist und weil es ihr Kind ist.

So ist es mit Gott und uns. Gott liebt uns mit einer unbegreiflichen, glühenden Liebe, einfach, weil wir da sind. Weil wir Gottes Kinder sind.

Unser ganzes Leben Gott zur Verfügung stellen, das heißt als Allererstes, dass wir uns Gottes Liebe gefallen lassen. Dass wir es uns sagen lassen: Dein Leben ist unendlich sinnvoll, du bist unendlich geliebt, in allem, auch im Schwersten, umhüllt dich Gottes Liebe. Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht. Auch wenn in deinem Leben vieles daneben geht. Auch wenn du an Covid erkrankst. Auch wenn dir liebe Menschen genommen werden, wenn du den Job verlierst, wenn du einsam bist: In all dem bist du dennoch geliebt, und nie, nie bist du allein. Denn Gott sitzt nicht selig irgendwo weit weg im Himmel. Gott ist dir immer nahe, näher als du dir selbst bist. Mag sein, dass du davon nichts spürst. Mag sein, dass du dich fragst: Wo ist er denn, Gott? Warum greift er nicht ein? Lass dir sagen: Gott ist bei dir, in dir, um dich, und mit dir gemeinsam trägt Gott die Lasten, die du zu tragen hast.

Es mag Zeiten geben, da spürst du die große Liebe Gottes, oder du hast eine Ahnung davon. Dein Leben erscheint dir in einem anderen Licht. Im Licht dieses glühenden Backofens.

Und vielleicht ist es gerade dieses Licht, das dich zurückschrecken lässt. Ich soll mich, mein ganzes Leben, Gott zur Verfügung stellen? Mit anderen Worten: Ich soll mein ganzes Leben der Liebe zur Verfügung stellen?

Da wird mir bewusst, wie viel in meinem Leben ist, was mir selbst gar nicht liebenswert vorkommt. Wie soll das denn gehen? Es gibt so vieles in mir und an mir, das ich selbst nicht leiden kann. Was ich lieber verstecke, vor den anderen und am liebsten vor mir selbst.

Ich glaube, das ist das größte Hindernis für die Liebe: die Scham und die Angst, die aus der Scham folgt. Die Scham sagt: ich bin es doch gar nicht wert. Ich bin schwach, oft bin ich gemein zu meinen Mitmenschen, ich bin egoistisch, zwiespältig, unzuverlässig.

Und Gott sagt: Egal. Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Das, was Jesus bei seiner Taufe gehört hat, das gilt für uns alle: Du und du und du bist Gottes geliebtes Kind.

Deswegen gibt es nichts, was wir vor Gott verstecken müssten. Es gibt nichts, das Gott nicht versteht, was Gott nicht annimmt. Es gibt nichts, was Gott nicht gebrauchen kann.

Dietrich Bonhoeffer, Theologe und Widerstandskämpfer im Dritten Reich, hat geschrieben:

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will“, und: „Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“

Nur deswegen können wir dem Rat des Paulus folgen und daran gehen, unser ganzes Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Das geht nicht auf einen Schlag, bei niemandem. Es ist ein lebenslanger Lernprozess. Ein Prozess, in dem wir nach und nach, wenn es gut geht, all unsere vermeintlich guten und all unsere vermeintlich miesen Seiten dem Licht der Liebe Gottes aussetzen können. Und das ist unser wahrer Gottesdienst: dass wir uns lieben lassen mit Haut und Haar, mit unseren Schatten und Flecken ebenso wie mit allem, was gut und wahr und schön ist an uns.

Und so kann das mit der Liebe weitergehen.

„Stellt euch nicht dieser Welt gleich“, sagt Paulus. Dieser Welt, in der nur das Strahlende, das Schöne, das vermeintlich Starke zählt. „Erneuert euren Sinn“, schreibt Paulus, „auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ Und das ist nicht das, was uns wohlgefällt, nicht das, was uns gut und vollkommen erscheint. Sondern das, was Gott als gut und vollkommen erklärt. Was Gott, der glühend Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel, als gut und vollkommen erklärt.

Du magst dir selbst schlecht und unvollkommen vorkommen. Das ist Gott egal. Gott sieht deine Möglichkeiten, nicht nur deine Wirklichkeit. Das ist der Sinn des Satzes, den Jesus so oft gesagt hat: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Nicht was dir misslungen ist, soll dein Leben bestimmen. Sondern das, was in dir angelegt ist. Deswegen kannst du jeden Tag neu anfangen, und das sei dein vernünftiger Gottesdienst.

Noch zwei Gedanken zum Schluss. Erstens: Wenn Gott dich und mich in all unserer Zwiespältigkeit so sehr liebt, dann ist die Folge, dass auch wir versuchen dürfen, unsere Mitmenschen mit Gottes Augen zu sehen. Dann sehen wir in ihnen nicht das Schwache und Gemeine, sondern die strahlende Schönheit der Kinder Gottes. Das geht auch nicht von heute auf morgen, auch das ist ein lebenslanger Lern­pro­zess. Gerade die, die so anders sind als wir, sind notwendig, damit der Leib vollständig ist. Das Auge ist kein Fuß und der Zeigefinger ist nicht der Magen – aber alle sind notwendig, gerade in ihrer Verschiedenheit. Diversität ist ein Stichwort, das dieser Tage groß geschrieben wird. Hier, bei Paulus, haben wir es schon.

Und das zweite: Wenn unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, wozu dient dann diese Veranstaltung hier am Sonntagvormittag in der Kirche (oder auch am Dienstagabend, wie der Musikgottesdienst)? Ich denke, sie hat einen zweifachen Sinn. Zum einen ist sie das Familientreffen der Kinder Gottes. Hier treffen wir uns und vergewissern uns, dass wir zusammengehören, in unserer ganzen Diversität. Und zum anderen ist dieser Gottesdienst der Ort, an dem wir uns das immer wieder sagen lassen können, jede Woche wieder: Dass Gott uns liebt, dass unser Leben nicht vergebens ist, dass Gott an unserer Seite ist, um uns herum und in unserem Herzen. Weil wir vergesslich sind, brauchen wir diese Zusage immer wieder.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, unserem großen und liebenden Bruder. Amen.

Weihnachten allein

Predigt in St. Markus, München, am 3. Advent, 13.12.2020

Liebe Gemeinde,

heute gibt es erst einmal eine ungehaltene Predigt. Das heißt, ich sage Ihnen kurz, was ich heute eigentlich vorhatte, in der Predigt zu sagen.

Ich wollte über Johannes den Täufer sprechen und über Jesus. Ich wollte Ihnen sagen, wie die beiden für jeweils unterschiedliche Formen von Spiritualität stehen: der eine – Johannes – für die Drohbotschaft: „Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“

Und dagegen Jesus, der die Frohbotschaft verbreitet. „Schaut die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Von Jesus, der körperlich und sozial Aussätzige heilte. Von Jesus, der den Leuten ungefragt die Sünde vergab und ihnen sagte: „Du kannst neu anfangen, unbelastet von den Fehlern und Verletzungen der Vergangenheit.“

Ich wollte zeigen, dass das daran liegt, dass die Spiritualität von Johannes und Jesus sich sozusagen um 180 Grad unterscheiden: Johannes vertritt eine nach oben gerichtete Spiritualität. Was muss ich tun, um Gott nahe zu kommen, um Gott recht zu werden? Er fastet, meditiert, lebt als Eremit in der Wüste, und seine Botschaft ist streng und unerbittlich. „Ihr Otterngezücht, ihr Schlangenbrut!“

Jesus dagegen vertritt die umgekehrte Richtung. Seine Spiritualität ist nach unten orientiert. Er verkündigt den heruntergekommenen Gott – mehr noch, er verkörpert den heruntergekommenen Gott. Er sagt: Du musst Gott nicht nahe kommen, du kannst das auch gar nicht, denn Gott ist dir schon nahe – näher als dein eigenes Herz. Du kannst aufhören, dich um dich selbst, um dein Seelenheil, um deinen eigenen Vorteil zu drehen, denn dafür ist gesorgt. Du kannst dich öffnen für deine Mitmenschen und für das Große Ganze, das wir Gott nennen.

Und ich wollte das noch ein bisschen ausziehen auf die spirituelle Szene heute innerhalb und außerhalb der Kirchen.

Das wäre zweifellos reizvoll gewesen, aber diese Predigt werden Sie heute nicht zu hören bekommen.

Denn gestern auf meinem Predigtspaziergang kam mir plötzlich der Gedanke: Wie kann ich über unterschiedliche Spiritualitäten parlieren, während zur selben Stunde die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten seit 10 Uhr an ihren Bildschirmen sitzen und höchstwahrscheinlich Maßnahmen beschließen, die dazu führen, dass dieses Weihnachten das seltsamste und für manche das einsamste Weihnachten wird, an das sie sich erinnern können? Und selbst wenn es nicht zum ganz harten Lockdown kommen sollte – in ein paar Stunden wissen wir mehr – so lohnt es sich doch, aus diesem Anlass einmal darüber zu reden, was Weihnachten denn eigentlich für ein Fest ist.

Kurz gesagt:

Weihnachten ist ein Familienfest.

Weihnachten ist kein Familienfest.

Wie? Was stimmt denn nun?

Nun, wie so oft: Beides stimmt. Ich möchte Ihnen sagen, wie ich das meine.

Erstens: Weihnachten ist ein Familienfest. Na klar, was denn sonst! Es gibt sicher keinen anderen Tag, an dem so viele Familienmitglieder zusammenkommen. Das ganze Land fällt in eine Art Winterschlaf, für zwei, drei Tage sind alle Geschäfte zu. Viele machen sich auf, reisen quer durch die Republik, um für diesen einen Abend oder für ein paar Tage ihre Eltern, Kinder, Geschwister und auch die verrückte alte Tante und den ungeliebten Onkel zu treffen.

Es scheint so eine Art menschliches Urbedürfnis zu sein, dass wir uns wenigstens einmal im Jahr unserer Familie vergewissern. Dass wir zusammenkommen, die alten Geschichten aufwärmen, die alten Rituale begehen und, ja, auch immer wieder die alten Kriegsbeile ausgraben. Und das ist auch gut und richtig so, wir brauchen das.

Aber: Es ist nicht das Eigentliche von Weihnachten. Denn zweitens: Weihnachten ist kein Familienfest.

Oder sagen wir es anders. Auf Jesus können wir uns nicht berufen mit unserer Betonung der Familie. Natürlich, Mutter, Vater, Kind im Stall – das ist sozusagen das Urbild der Familie und es ist kein Wunder, dass ausgerechnet das Weihnachtsfest so zum Familienfest wurde.

Aber Jesus war kein Familienmensch. Von Jesus sind solche Geschichten überliefert: Als er beginnt, öffentlich zu predigen, kommt seine Familie, Mutter und Brüder, und wollen ihn zurückholen in die Familie. „Er spinnt“, sagen sie, „er ist verrückt geworden.“

Als Jesus davon erfährt, sagt er: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und er sieht sich um, zeigt auf die, die um ihn im Kreis sitzen und ihm lauschen, und sagt: „Das hier, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Oder dies hier: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ Wobei man über das Wort, das Martin Luther mit „hassen“ wiedergibt, auch noch ein paar Worte verlieren müsste. Es geht nicht um ein negatives Gefühl, um eine Aversion. Es geht darum, mit den Familienbanden zu brechen, sich herauszulösen um eines größeren Zieles willen.

Die Familie ist alles? Nein, Jesus würde diesen Satz nicht unterschreiben.

Aber sei’s drum. Es ist das eine, zu wissen, dass wir uns mit unseren Familientraditionen nicht auf Jesus berufen können. Und das andere ist, dass wir Menschen sind und unsere urmenschlichen Bedürfnisse haben. Und deswegen kehre ich wieder zu Erstens zurück: Weihnachten ist ein Familienfest.

Und das soll uns nun verdorben werden. Die Zahl derer, die sich treffen dürfen, wird sehr gering ausfallen und auch, wenn sicher nicht die Polizei am Vierundzwanzigsten um 19 Uhr vor der Tür steht und nachzählt – so werden die Vorschriften höchstwahrscheinlich ausfallen, über die gerade verhandelt wird.

Und was macht nun jemand, der aus diesem Grund in diesem Jahr an Weihnachten allein sein muss? Gerade für Menschen, die sonst sehr viel allein sind, kann das Weihnachtsfest unter normalen Umständen eine Gelegenheit sein, einmal aufzutanken im Kreis von anderen. Das fällt dieses Jahr flach, wie auch praktisch alle Feiern für Einsame und allein Lebende, die sonst etwa von manchen Kirchengemeinden veranstaltet werden.

Was also tun?

Zunächst einmal: Vielleicht kann ich mir dieses Jahr noch gezielter überlegen: Wer in meiner Umgebung, meiner Nachbarschaft wird wohl dieses Weihnachten auch allein verbringen? Kann ich mich mit einem dieser Menschen nicht doch verabreden – vielleicht sogar für eine gemeinsame Stunde am Weihnachtsbaum, oder, wem das aus welchen Gründen auch immer zu heikel erscheint – für einen Spaziergang? Oder kann ich mich mit ein, zwei, drei Menschen gezielt zu einem langen Telefonat verabreden?

Einen Versuch könnte das wert sein, meine ich. Und wenn das alles nicht geht?

Mein Vorschlag ist nicht originell und trifft im Grunde auf alle schwierigen und schmerzlichen Situationen zu, in die wir geraten und die wir nicht ändern können. Er ist im Grunde ganz simpel und doch sehr schwer umzusetzen:

Wenn wir etwas nicht ändern können, ist es weise, es anzunehmen. Sich nicht dagegen zu sträuben und die Abwehr dagegen fallen zu lassen. Es ist nicht schön, aber es ist das, was jetzt ist. Solange ich mit der Situation hadere, mich innerlich dagegen wehre und ankämpfe, vergeude ich meine Energie.

Je besser es gelingt, Ja zu sagen zu dem, was ist, desto eher kann ich kreativ mit der Situation umgehen. Ja sagen, das heißt nicht, dass ich die Situation auf einmal toll und wunderbar finden muss. Die Situation ist nicht in Ordnung. Aber vielleicht kann ich sagen: Es ist in Ordnung, dass es so ist.

Und dann kann ich versuchen, einmal dem inneren Sinn des Weihnachtsfestes nachzuspüren. Ich kann mit ein paar Kerzen anzünden, mir selbst die Weihnachtsgeschichte vorlesen, vielleicht das Weihnachtsoratorium hören oder eine CD mit schöner Weihnachtsmusik. Ich kann mir eine Liedstrophe vornehmen, etwa „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt. Ich kann die Augen schließen und versuchen, mich mit allen inneren Sinnen an diese Krippe zu begeben, das Kind zu betrachten, das in mir geboren werden will, mich für den Frieden zu öffnen, den der Friedefürst bringt.

Und dann kann ich für mich selbst mein Lieblingsessen kochen, ganz bewusst, trotz- und alledem und jetzt erst recht. Und dann ein Buch lesen, etwas im Fernsehen anschauen – wie sonst auch eigentlich, aber mit dem inneren Versuch, Ja zu sagen zu der Situation, die ich nicht ändern kann.

Das sollen keine Durchhalteparolen sein. Ich möchte Sie aber anregen, das, was auf uns zukommt, anzunehmen als die Realität, die nun einmal ist, wie sie ist. Und vielleicht hilft Ihnen der Gedanke ein kleines bisschen, dass es zwar gut und schön und wichtig ist, eine Familie zu haben und mit ihr zu feiern. Aber für Weihnachten ist das eigentlich nicht das Entscheidende. Das Entscheidende formuliert Paul Gerhardt so: „So lass mich nun dein Kripplein sein. Komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, dem Friedefürsten. Amen.

Das Kamel und das Nadelöhr

Predigt in St. Markus München, 11. Oktober 2020

Liebe Gemeinde,

diese Geschichte, die wir gehört haben, von dem Kamel und dem Nadelöhr, die hat es in sich. Sie enthält mindestens dreimal eine wunderbare Zusage von Freiheit und Ermutigung, pures Evangelium, gute Nachricht.

Vielleicht erstaunt Sie das. Ich habe auch gestaunt, als mir das aufgegangen ist. Lange Zeit habe ich mit dieser Geschichte gehadert. Sie hat mir ein schlechtes Gewissen gemacht, Schuldgefühle geweckt. Ich habe sie als nahezu unerträglichen Anspruch gehört, als eine riesige Anforderung, die ich unmöglich erfüllen kann. Wer kann das schon, was Jesus dem Mann sagt, der nach dem Weg zu Leben fragt: „Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben – und dann komm, folge mir nach!“

Was nützt mir dieses Versprechen, einen Schatz im Himmel zu haben, wenn ich es nicht schaffe, meinen Besitz wegzugeben! Ja, leichter geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.

So habe ich diese Geschichte lange gehört, und es hat einen guten Teil eines langen Theologenlebens gebraucht, bis ich gemerkt habe, was ich in dieser Geschichte alles überhört habe.

Mindestens drei klare Zusagen von Freiheit, von Trost, von Evangelium. Fangen wir an.

Die erste Zusage kommt als Frage daher. „Was nennst du mich gut?“, fragt Jesus zurück, als der Mann ihn anspricht: „Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“

„Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott“, sagt Jesus. Nachdem mir Ohren gewachsen waren, um zu hören, hörte ich: Niemand ist gut, nicht einmal Jesus will sich als gut bezeichnen lassen. Selbst Jesus kennt anscheinend in sich Regungen, die man nicht als gut bezeichnen würde, selbst Jesus hat anscheinend Dinge getan, Worte gesagt, Gedanken gehegt, die nicht gut waren. Ich finde das sehr entlastend. Es  nimmt mir den Anspruch, ich müsste gut sein – immer und in allen Dingen. Es entlastet mich, wenn ich Böses in mir vorfinde. Egoistisches und Egozentrisches, wenn ich gehässig bin oder feige oder gemein.

Bitte verstehen Sie das jetzt nicht falsch – man kann diesen Gedanken sehr leicht falsch verstehen, ich weiß. Ich meine nicht, dass es egal ist. Dass ich mir keine Gedanken machen muss um mein Tun und Lassen, um mein Reden und Denken. Nein, ich bemühe mich schon, Gutes zu tun, Gutes zu denken, Hilfreiches und Aufbauendes zu reden. Aber wenn ich daran scheitere, wenn ich dann eben doch fies bin oder gemein oder gedankenlos – dann kann ich mir das eher verzeihen. Niemand ist gut als der eine Gott, und solange ich als Mensch auf dieser Erde lebe, werde ich niemals durch und durch gut sein können.

Noch einmal: Ich will mich trotzdem bemühen und ich bitte euch alle, euch auch zu bemühen, so gut ihr könnt, Gutes zu tun, zu reden und zu denken. Aber das ist ja gar nicht immer so eindeutig, was eigentlich in einer bestimmten Situation gut ist und was nicht, manchmal wissen wir erst hinterher, dass wir es vermasselt haben, dass wir jemand verletzt haben, dass wir den falschen Weg gewählt haben. Und selbst wenn wir es wissen, schaffen wir es eben allzu oft nicht. Und mir hilft diese Geschichte, mir diese Schwäche und Inkonsequenz zu verzeihen.

Das ist also das Erste: Niemand ist gut als der eine Gott. Und du brauchst nicht den Anspruch an dich zu haben, immer und in jeder Lage gut zu sein.

Zweitens. Der Mann fragt ja, was er tun muss, um das ewige Leben zu haben. Und Jesus antwortet erst einmal sehr einfach. „Halte die Gebote“, und er zählt einige der Zehn Gebote auf. Das reicht. Um das ewige Leben zu ererben, sagt Jesus, reicht es aus, die Zehn Gebote zu halten.

Nicht dass das so einfach wäre! Aber auf jeden Fall erscheint es mir einfacher als meinen ganzen Besitz herzugeben und – ja, wie könnte ich heute Jesus buchstäblich nachfolgen? Heimatlos durch die Gegend streifen? Oder ins Kloster gehen beziehungsweise eine Kommunität gründen mit Menschen, die in Armut leben und alles, was sie trotzdem noch haben, miteinander teilen? Vielleicht keine schlechte Idee, aber ich habe es nicht fertiggebracht, als ich jung war, und jetzt, wo ich alt werde, werde ich es höchstwahrscheinlich auch nicht mehr schaffen. Und ehrlich gesagt, das will ich auch nicht.

Aber die zehn Gebote einhalten, das kann ich zumindest versuchen. Wenn ich dann noch die entlastende Botschaft habe, dass ich nicht so gut sein muss wie Gott, dann sieht es noch besser aus. Übrigens, nicht dass Sie jetzt meinen, ich will es mir zu einfach machen: Ich beziehe mich hier – so gut ich kann – auf Jesus selbst. Denn auch das ist mir im Lauf eines langen Theologenlebens aufgegangen, dass Jesus zwar immer wieder von der Sünde spricht. Aber bis auf ganz wenige Ausnahmen immer im Zusammenhang mit der Vergebung. Er sagt nie: „Du böser Sünder!“ Dagegen sagt er sehr oft: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Jesus weiß, dass wir Menschen nicht vollkommen sind. Nur Gott ist vollkommen.

Gut, also die Zehn Gebote einhalten, das kann ich versuchen. Aber das reicht ja nicht, oder?

Da ist es wichtig, wieder einmal genau hinzuhören. Der Mann sagt: „Ja, ja, Jesus, schon klar. Das tue ich ja, das habe ich schon immer getan. Aber das kann’s doch nicht sein. Da muss es doch noch mehr geben. Einfach nur die Gebote halten – ich bitte dich! Sag mir: Was fehlt noch?“

Dieser Eifer, diese Unzufriedenheit mit dem, was zu einfach erscheint, die gefällt Jesus. „Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb.“ Die Geschichten in der Bibel sind sehr knapp formuliert, da ist kein Wort überflüssig. Wenn da also steht, dass Jesus den Mann ansah, dann hat das eine Bedeutung. Ich denke, damit ist gesagt: Jesus erkannte ihn, er erkannte seine Sehnsucht nach mehr, seine Bereitschaft zur Hingabe, sein Streben danach, eben doch vollkommen zu sein. Das gefällt Jesus, es heißt: „Er gewann ihn lieb.“

Und nun erst sagt Jesus: „Dir fehlt eins.“ „Dir“ – nicht allen. Im Matthäusevangelium wird diese Geschichte ganz ähnlich erzählt, und da sagt Jesus: „Wenn du vollkommen sein willst, dann … (verkaufe alles was du hast und so weiter).“ Diese Einladung betrifft also ganz speziell diesen Mann. Jesus hat nicht alle, die sich von seiner Botschaft angesprochen wussten, dazu aufgefordert. Maria, Marta und Lazarus etwa, die Geschwister, die mit Jesus befreundet waren: die hatten ein Haus und gaben es nicht auf. Und das war auch gut so, dann Jesus konnte bei ihnen Station machen, sie luden ihn ein zum Essen, zum Übernachten. Oder Josef von Arimathäa, ein reicher Ratsherr, auch er gab nicht seinen ganzen Besitz auf, auch nicht das Grab, das er hatte anlegen lassen und in dem er den Leichnam Jesu bestatten konnte nach der Kreuzigung.

Das ist also das Zweite: Es genügt, die Zehn Gebote zu halten – so gut ich kann.

Aber was ist dann mit dem Kamel und dem Nadelöhr? Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt, das sagt Jesus doch. Und bin ich nicht reich? Auf jeden Fall im Vergleich zu einem ganz, ganz großen Teil der Weltbevölkerung. Im Vergleich zu Menschen im Sudan oder in den Slums von Kalkutta sind war alle, wie wir hier sitzen, superreich. Selbst wenn wir von Hartz IV leben sollten.

Also, können wir nicht ins Reich Gottes kommen? Kommen wir – in die Hölle?

Nun, das Rech Gottes ist bei Jesus nicht das, was uns nach dem Tod erwartet. Das meinen viele, und das kommt daher, dass das Reich Gottes im Matthäusevangelium Himmelreich heißt, und der Himmel, der wartet eben auf die Frommen nach deren Tod. So haben wir es irgendwann einmal gelernt.

Aber wenn Jesus vom Reich Gottes spricht und auch wenn er vom Reich der Himmel spricht – das ist übrigens dasselbe –, dann meint er etwas, das sich hier und jetzt ereignet. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch, inwendig in euch.“ Das Reich Gottes, das ist eine Haltung, ein Zustand in uns und unter uns, der geprägt ist von Liebe und Versöhnung, von Gemeinschaft, von Rücksicht und Zuwendung.

Und es ist wohl leider oft so, dass wir Menschen, je mehr wir besitzen, desto weniger abgeben wollen oder können. Besitz macht uns ängstlich und abhängig. Wer nichts hat, braucht seine Tür nicht abzusperren. Wer reich ist, muss sich schützen, sich und seinen Reichtum. Ich glaube, dass Jesus diese Haltung meint. Der Mann, dem es nicht reichte, die Gebote einzuhalten, konnte den nächsten Schritt nicht mehr tun, den Jesus ihm vorschlägt. Er geht traurig weg, weil ihm sein Besitz eben doch wichtiger ist.

Nun gut, in diesem Mann erkenne ich mich durchaus auch wieder. Mir ist mein Besitz auch wichtig. Ich tue mir mit dem Teilen oft schwerer als ich es selbst für richtig halten würde. Und es ist nicht nur der materielle Besitz – da bilde ich mir etwas auf mein Wissen ein, auf meinen guten Geschmack, da rümpfe ich vielleicht heimlich oder offen die Nase über jemand, der nicht so gebildet ist wie ich. Aber ich will vom materiellen Besitz auch nicht ablenke. Ich denke, Jesus meint schon den Reichtum an Geld und Gütern, wenn er vom Reichtum spricht. Puh, da haben wir alle schlechte Karten.

Deswegen ist vielleicht die wichtigste, auf jeden Fall aber die tröstlichste Stelle in der Geschichte der letzte Satz. Da heißt es: Jesus sah sie an – sieh da, schon wieder! Schon wieder steht da, dass Jesus jemand ansieht, in diesem Fall also seine ratlosen Jünger. Der sieht ihre Ratlosigkeit, er sieht ihr Zögern, ob sie selbst radikal genug sind, ob ihre Leistung ausreicht. „Wer kann dann selig werden?“, fragen sie sich. Jesus sieht das alles, und dann sagt er: „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“

Da höre ich die Steine von den Herzen poltern. Gott verlangt nichts Unmögliches, und wenn uns doch etwas unmöglich ist, dann kann Gott eingreifen und nachhelfen. Bei ihm ist nichts unmöglich. Du und du und du bist nicht unmöglich. Denn Gott ist allein gut. Gott ist gut und nicht böse, das heißt für mich auch und als Wichtigstes: Gott ist dir und mir gut, er ist dir und mir nicht böse.

Das ist entscheidend. Man könnte dieses Wort ja auch so auffassen: Gott allein ist gut, und alle andern sind schlecht oder böse, und deswegen will Gott mit ihnen nichts zu tun haben. Aber nein! Dann wäre Gott nicht wirklich gut. Denn zum Gutsein Gottes gehört auch, dass er Verständnis hat für unsere Schwachheit. Dass er vergibt und uns lockt, es noch einmal zu versuchen. Dass er uns die Versöhnung anbietet, Versöhnung mit uns selbst und unseren unmöglichen Ansprüchen, und Versöhnung mit sich – mit Gott, dem Grund und Geheimnis der Welt.

Gott gibt niemand verloren. Auch nicht den reichen Mann mit dem großen Anspruch, an dem er selbst dann scheitert. Auch nicht dich und auch nicht mich. Das ist für mich die Quintessenz dieser Geschichte, und was mit einem Kamel anfängt, das ratlos vor dem Nadelöhr steht, endet mit der großen Einladung Gottes, bei dem nichts unmöglich ist, dafür alles möglich.

Und deswegen schließe ich mit dem Wunsch: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, dem großen Ermöglicher.

Amen.

Was ist Liebe?

Vincent van Gogh, Der barmherzige Samariter

Am 16. August 2020 ging es schon einmal um das Doppelgebot der Liebe.
Am 30. August jetzt die Themenpredigt zu meiner kleinen privaten Predigtreihe: „Was ist Liebe?“

Ja, die Liebe… Viel besungen, unendlich oft verfilmt – die Liebe scheint das Wichtigste im Leben zu sein. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist es gar nicht so leicht zu sagen, was das denn ist, die Liebe.

Einen Punkt, denke ich, können wir relativ rasch abhandeln. Unser Bild von Liebe ist unwillkürlich von der romantischen Liebe geprägt, vom Schmachten, von der Leidenschaft, vom Herzklopfen… Diese Liebe, die dann im ersten Kuss oder der Traumhochzeit ihre Erfüllung findet, dem Happy End, nach dem im Kino, um mit Kurt Tucholsky zu sprechen, „für jewöhnlich abjeblendt“ wird. Diese romantische Liebe ist wunderschön, wenn man sie denn erleben darf, und ohne sie wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Aber sie ist nicht beständig. So schade das ist: Große Gefühle kommen und gehen, Leidenschaft kommt und geht, Erotik kommt und geht – und wenn das alles war, was zwei Menschen aneinander bindet, dann war’s das über kurz oder lang, die Beziehung scheitert und beide machen sich auf die Suche nach dem neuen ultimativen Liebes-Kick.

Ich denke, es ist ziemlich klar, dass die Bibel etwas anderes im Sinn hat, wenn sie von der Liebe spricht. Zwar kennt sie auch große Liebesgeschichten – Jakob und Rahel, David und Batseba, vielleicht auch Jesus und Maria Magdalena, wer weiß… – aber hier geht es um etwas anderes. Wenn der Gesetzeslehrer fragt, wie er ins ewige Leben kommt, und auf die Rückfrage von Jesus – „Was steht dazu in der Bibel?“ aus dem Glaubensbekenntnis Israels zitiert: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“, dann versteht es sich von selbst, dass es nicht um diese Art romantische Liebe gehen kann, um das rosarote Gefühl oder die flammende Erotik – obwohl manche Mystikerinnen und Mystiker auch eine solche flammend erotische Liebe zu Gott empfunden haben. Aber das ist eher die Ausnahme.

Was meint die Bibel, was meint Jesus dann mit Liebe?

Ich glaube, die Liebe, um die es hier geht, ist etwas sehr Nüchternes. Sie hat viel mit Respekt zu tun, mit Achtung. Das ist übrigens noch mal eine Brücke zur romantischen Liebe. Die Frage, die ich bei einer Trauung den Brautleuten stelle, lautet ja: Willst du, Lieschen Müller, diesen Franz Huber als deinen Ehemann lieben, ehren und achten und so weiter… Wenn die romantische Liebe sich allmählich verflüchtigt hat, wird es immer wichtiger, dass die Liebenden einander ehren und achten.

Und was heißt das nun schon wieder, ganz konkret?

Ich denke, es hat mit Folgendem zu tun: Ich erkenne – und anerkenne –, dass der andere Mensch mir gegenüber eben ein Mensch ist, ein geliebtes Kind Gottes, genauso wie ich selbst auch. Hass und Angst entmenschlichen den anderen. Wen ich hasse, dem spreche ich allzu leicht das Menschsein ab. Das merkt man dann unter anderem daran, dass ich ihn dann auch gern mit Tiernamen belege.

Hass ist das Gegenteil von Liebe, und Angst ist es noch mehr. Wenn ich vor einem anderen Menschen Angst habe, macht meine Phantasie ihn zum Monster, zum Unmenschen.

Liebe, das heißt, ich sehe hinter der Fassade, die mir Angst einflößt oder die meine Abneigung erregt, den Menschen. Dieser Mensch hat eine Geschichte, wie ich, er oder sie hat Gefühle, wie ich, hat oder hatte einen Vater und eine Mutter – und vielleicht hatte er oder sie mit Vater und Mutter nicht so viel Glück wie ich. Wenn ich denn Glück hatte mit meinen Eltern. Dieser Mensch lacht und weint, liebt und wird geliebt, er hat Freuden und Ängste und ein Herz – auch wenn ich dieses Herz vielleicht nicht spüren kann. Aber kann ich denn mein eigenes Herz immer spüren – und kann das Gegenüber mein Herz immer spüren?

Dieser andere ist also ein menschliches Wesen, so wie ich. Und das heißt, er oder sie ist ein geliebtes Kind Gottes. So wie ich. Mehr noch: Auch auf dem Grunde seines oder ihres Herzens ist Gott zu finden, wie gut verborgen und zugemüllt auch immer, so wie in mir. Dieser andere Mensch ist mir im Innersten verwandt. Und das, was mich an ihm stört oder aufregt, ist meistens etwas, was ich an mir selbst nicht mag – so sehr nicht mag, dass ich es wegschiebe in den Schatten. Der Splitter im Auge das anderen ist aus demselben Holz wie der Balken in meinem.

Einmal habe ich eine Entdeckung gemacht: Der Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ heißt auf Englisch: „Love your neighbour as yourself.“ Und dieses Wörtchen as hat es in sich. Es heißt nämlich nicht nur: wie, sondern auch als. Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Das kann man also so verstehen: Liebe dich selbst in ihm. Liebe ihn, denn er und du, ihr seid ein und dasselbe – beide seid ihr ein Stück von Gottes Mensch gewordener Schöpferkraft, von Gottes Liebe und Phantasie.

Mehr noch. Seit Gott Mensch wurde in dem Menschen Jesus aus Nazareth, glauben wir Christen, dass uns Gott selbst begegnet in den anderen. Ich weiß, das ist oft schwer vorstellbar. Dass Gott mir in den Menschen begegnet, die ich sympathisch finde, die ich bewundere, geschenkt. Aber – in Donald Trump, oder wahlweise in Angela Merkel? In dem – bitte ankreuzen – in dem AfD-Wähler beziehungsweise dem linken Sponti?

Ja. Genau das mutet Jesus uns zu. „Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr mir getan – oder eben nicht getan.

Musikalisches Intermezzo –

Der Gesetzeslehrer, der Jesus befragt, ist sich mit Jesus einig: Die Liebe ist es, die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen, die gibt das ewige Leben. Nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger.

Und mit der Liebe zu Gott scheint der Gesprächspartner von Jesus kein Problem gehabt zu haben. Denn er fragt danach nicht weiter. Vielmehr fragt er: „Und wer ist das, mein Nächster?“ Das ist keine Fangfrage, sondern eine echte Frage, die die Bibelkundigen, die Rabbinen zur Zeit von Jesus diskutiert haben. Meine Nächsten – sind das nur meine Familie und meine Nachbarn? Oder sind es alle, die in meinem Dorf wohnen, in meiner Stadt, oder alle, die zu meinem Volk gehören?

Als Antwort erzählt Jesus die bekannte Geschichte von dem Mann, der unter die Räuber gefallen ist. Und diese Geschichte hat eine doppelte Pointe. Die erste: Jesus sprengt die Grenzen, wie so oft. Derjenige, der die Barmherzigkeit übt und der dem verwundeten Gewaltopfer zum Nächsten wird, ist ein Samaritaner. Würde Jesus das Gleichnis uns heute erzählen, wäre es vielleicht ein Flüchtling aus dem Kosovo oder aus Nigeria. Oder ein salafistischer Türke. Einer, bei dem man nicht so recht weiß, ob man ihn nur unmöglich findet, oder ob man nicht auch Angst haben muss vor ihm.

Diese Pointe ist für sich genommen schon revolutionär in einer Gesellschaft, die streng darauf achtet, dass getrennt bleibt, was getrennt gehört. Aber die andere Pointe hat es ebenso in sich, und sie hat etwas mit dem Zusammenspiel von Gottesliebe und Nächstenliebe zu tun.

Der erste Mann, der an dem Verwundeten vorbeigeht, ist ein Priester. Er kommt von Jerusalem, hat also vielleicht am selben Tag oder am Tag vorher noch einen Opfergottesdienst abgehalten. Einer, von dem man annehmen darf, dass er Gott liebt. Einer, von dem man annehmen könnte, dass Jesus ihm den Satz aus dem Propheten Hosea vorhalten würde: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, spricht der Ewige.

Der zweite ist ein Levit, und ich stelle mir vor, dass dieser Levit nicht von Jerusalem herunterkommt, sondern nach Jerusalem hinaufgeht. Am Abend wird er im Tempel dienen. Als er den Verwundeten sieht, so stelle ich mir vor, erschrickt er: überall Blut! Und wer Blut berührt, wird unrein. Wenn er dem Mann hilft, kann er nicht im Tempel dienen, er müsste sich erst ausgiebig reinigen. Um seinen Einsatz im Tempel nicht zu gefährden, lässt er den Halbtoten liegen. Er stellt gewissermaßen die Gottesliebe und den Gottesdienst über den Dienst am Nächsten, die Liebe zum Nächsten.

Wir brauchen uns über diesen Mann nicht zu erheben. Ich weiß nicht, was ich tun würde – angenommen, ich wäre unterwegs hierher in die Markuskirche, weil ich um 11.15 meinen Gottesdienst habe, und da liegt jemand auf der Straße. Würde ich denken: Ach, der ist bloß besoffen, und außerdem wird sich bestimmt bald jemand um ihn kümmern? Ich kann und darf doch nicht zu spät zum Gottesdienst kommen! Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher.

***

Also: Was ist Liebe? Ich sage es einmal sehr überspitzt. Liebe ist kein Gefühl. Oder genauer: keine Emotion. Eine Emotion, das ist die Bewegung, die durch etwas von außen in mir hervorgerufen wird. Verliebtheit, das ist eine Emotion. Sie wird von der Frau oder dem Mann hervorgerufen, die wir so begehrenswert finden. Liebe wird nicht vom Gegenüber hervorgerufen. Wäre das so, wäre es völlig absurd, ein Gebot zu formulieren, das heißt: Du sollst lieben. Jeden x-beliebigen Menschen auf der Straße, ja sogar – wie Jesus an anderer Stelle sagt – meine Feinde.

Ich kann für viele Menschen keine herzliche Zuwendung empfinden. Aber ich kann mir inne werden – und das ist etwas, was nicht im Kopf geschieht, sondern im Herzen –, ich kann mir im Herzen innewerden, dass da mir gegenüber ein Mensch ist, ein Kind Gottes, mit mir im Innersten verwandt, ein Glied an demselben Leib, an dem auch ich hänge.

Und ich behandle ihn so, wie ich behandelt werden möchte. Das ist die andere Zusammenfassung, die Jesus gibt vom Gesetz und den Propheten, für den Weg zum ewigen Leben, die andere Formulierung für das, was es heißt zu lieben: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“

Denn der andere ist wie ich, und im Tiefsten ist er ich und ich bin er. Wenn ich ihn schlecht behandle, schneide ich mir ins eigene Fleisch. Darum geht es. Wir gehören zusammen, wir sind alle Kinder des einen Vaters, wir sind alle aus derselben göttlichen Liebe und Schöpferkraft gemacht.

Das zu lernen dauert ein Leben und länger. Und ich weiß, manchmal ist es schier unmöglich, einen anderen Menschen zu lieben – ihm Gutes wünschen, Gutes tun, Gutes schenken. Doch nur so kann etwas besser werden in der Welt. Und: Jeder kleinste Akt der Liebe zählt. Jedes Mal, wenn sich ein Mensch überwindet, die Hand reicht über Grenzen hinweg, jedes Mal, wenn ein Mensch in einem anderen sein eigen Fleisch und Blut erkennt und ihm das gibt, was er selbst gern von anderen bekäme, jedes Mal, wenn ein Mensch einem anderen Liebe erweist, freuen sich die Engel im Himmel, singen und jubeln und klatschen in die Hände.

So lasst uns nun hingehen, tun wir desgleichen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, dem großen Liebenden, unserem Bruder und Freund. Amen.

Das höchste Gebot – Israelsonntag 2020

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Einmal wieder eine „ganz normale“ Predigt, das heißt: die Auslegung eines Bibeltextes. Der Israelsonntag – ein Sonntag, an dem es in den christlichen Gottesdiensten um das Verhältnis der Christen zu den Menschen jüdischen Glaubens geht – hat mich dieses Jahr herausgefordert. Deswegen diesmal keine Themenpredigt, sondern eine zum Evangelium des Sonntags.

 

 

Was ist das Wichtigste am Christsein?

Liebe Gemeinde, ich denke, die allermeisten Christen würden, wenn sie eine Umfrage auf der Straße beantworten sollten, spontan sagen: die Nächstenliebe. Und das ist ja auch nicht verkehrt. Es ist aber nur die Hälfte.

Manche würden vielleicht antworten: Das Wichtigste ist das Doppelgebot der Liebe, und damit kämen sie der Sache schon näher.

Aber auch das ist noch nicht alles. Als Jesus gefragt wurde, welches Gebot das wichtigste von allen sei, antwortete er mit einem Glaubensbekenntnis, mit dem Glaubensbekenntnis seines Volkes, seiner Religion. Er zitierte damit aus der Bibel, aus dem hebräischen Teil der Bibel, der für die Juden wie für die Christen als heilige Schrift gilt, eine Stelle aus dem 5. Buch Mose. Es ist das sogenannte Schma Jisrael, das ist Hebräisch für „Höre, Israel!“ Schma Jisrael, adonaj elohejnu, adonaj ächad. Höre, Israel: Der Ewige ist dein Gott, der Ewige ist einer.

Wer mit dem Wortlaut der Bibel vertraut ist, dem wird vielleicht aufgefallen sein, dass ich nicht gesagt habe: Der Herr ist dein Gott. In der Bibel steht hier der Eigenname Gottes, den Gott dem Mose in der Wüste genannt hat, geschrieben mit den vier Hebräischen Buchstaben J, H, W und noch einmal H, das Tetragramm (also vier Buchstaben). Die Juden sprechen diesen Namen nicht aus und aus Respekt vor dem Glauben unserer jüdischen Geschwister möchte ich ihn auch nicht aussprechen. Wenn ein Jude aus der Bibel vorliest, sagt er statt des Gottesnamens Adonai, das das heißt der Herr. Oft sagen sie aber auch statt „der Herr“ „der Ewige“. Und ich muss sagen, mir gefällt „der Ewige“ besser. Denn das Wort „Herr“ weckt Assoziationen an weltliche Herren, und mit dem Machtgebaren eines Herrn Lukaschenko, eines Herrn Assad, eines Herrn Kim hat Gott keine Gemeinsamkeit. Gott ist der Ewige, der in Ewigkeit zu seiner Schöpfung steht, zu seinen Geschöpfen, zu dir und zu mir.

Das Glaubensbekenntnis, das Schma Jisrael, steht im Zentrum des jüdischen Glaubens. „Höre, Israel: Der Ewige ist dein Gott, der Ewige ist Einer. Und du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“

Mit seiner Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten zeigt sich Jesus ganz als gläubiger Jude. Und das war er. Jesus hatte ja nicht vor, eine eigene Religion zu gründen, so wie Martin Luther nicht vorhatte, eine eigene Kirche zu gründen. Jesus wollte seinen jüdischen Mitmenschen helfen, den Glauben an den einen Gott konsequent und mit Hingabe zu leben.

Ja, Jesus war Jude durch und durch. Das mag manchen wie eine Binsenweisheit vorkommen, aber ich fürchte, man muss das heute wieder laut und deutlich sagen. Heute, wo in unserem Land gläubige Juden ihren Glauben verstecken, weil sie Angst haben müssen, deswegen angegriffen zu werden. Und ich muss sagen, ich finde es unerträglich, dass ausgerechnet in Deutschland der Antisemitismus seine hässliche Fratze wieder zeigen kann. Dass es Deutsche gibt, die meinen, etwas Besseres zu sein als ihre Mitmenschen jüdischen Glaubens, und, schlimmer noch, die meinen, „den Juden“ alle möglichen Verbrechen und Verschwörungen in die Schuhe schieben zu können. Wenn heute auf Demonstrationen in Deutschland von einer Weltverschwörung gefaselt werden kann und jeder, der den Code deuten kann, weiß, dass damit die sogenannte jüdische Weltverschwörung gemeint ist – eine böse Legende aus der Mottenkiste der Nazis und anderer antisemitisch denkender Menschen –, wenn das heute in Deutschland öffentlich gesagt werden kann, dann ist das eine ganz große Katastrophe. Und wir als Christen dürfen uns an diesem Geschwätz in keiner Weise beteiligen, im Gegenteil. Wo wir etwas derartiges hören, müssen wir dagegenhalten, energisch und kompromisslos. Nicht nur wegen der Geschichte unseres eigenen Volkes, sondern auch deswegen, weil wir als Christen eine ganz besondere Nähe zu unseren Geschwistern jüdischen Glaubens haben.

 

***

Zurück zu unserem Text. Ein Schriftgelehrter tritt zu Jesus und befragt ihn. Er tut damit etwas, was unter jüdischen Rabbis üblich war und bis heute ist. Er stellt eine Frage und eröffnet einen Dialog.

Das ist bis heute die übliche Weise, in der jüdische Theologen um die Wahrheit ringen. Es gibt im Judentum ja kein Lehramt. Es gibt niemand, der sagt, was ein frommer Jude zu glauben hat – so wie es das bei den Evangelischen ja auch nicht gibt. Die jüdische Theologie lebt aus der Überzeugung, dass sich die Wahrheit im Dialog erschließt. Und dabei können auch unterschiedliche Meinungen oder unterschiedliche Akzentsetzungen nebeneinander bestehen bleiben. Es gibt keine jüdische Dogmatik, in der steht, „wie es ist“. Vielmehr heißt es: „Rabbi Schlomo sagt dies, Rabbi Eliezer sagt das…“

Darüber gibt es sogar einen Witz: „Zwei Nachbarn liegen im Streit, und sie wenden sich an ihren Rabbiner. Der hört den einen an und sagt, du hast recht. Dann hört er den anderen an und meint, du hast recht. Da kommt die Frau des Rabbiners herein und meint, die können ja nicht beide recht haben. Sagt der Rabbi: Da hast du recht.“

Das heißt nicht, dass es bei solchen Lehrgesprächen nur um harmlose Spielerei geht, um l’art pour l‘art. Aber die Juden wissen, dass kein Mensch  die ganze Wahrheit für sich beanspruchen kann. Und damit machen sie Ernst.

Der Schriftgelehrte will Jesus also nicht hereinlegen, wie das manchmal dargestellt wird. Er hat mitbekommen, dass dieser Jesus ganz besonders gewitzte Antworten parat hat, und möchte mit ihm eine beliebte Streitfrage unter Rabbinern erörtern.

Und Jesus antwortet, wie gesagt, gut jüdisch, indem er aus der Bibel zitiert. Unser sogenanntes Doppelgebot der Liebe – du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst – stammt im Original also gar nicht von Jesus, es besteht aus zwei Bibelzitaten, und zwar aus dem 5. und aus dem 3. Buch Mose.

Der erste Teil ist das Glaubensbekenntnis der Juden. Er entspricht inhaltlich genau dem Ersten der Zehn Gebote: „Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du wirst neben mir keine anderen Götter haben.“ Das ist nur eine etwas andere Formulierung für den Satz: „Der Ewige, dein Gott, ist Einer.“

Es heißt aber auch: Gott, der ewige Gott Israels, hat sein Volk befreit. Er ist ein Gott der Freiheit, und so sind auch seine Gebote zu verstehen: Sie wollen diejenigen frei machen, die sich daran orientieren. Und das gilt selbstverständlich auch für dieses höchste Gebot: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Dieses Gebot will uns nicht knechten oder uns eine Last aufbürden. Im Gegenteil.

Denn: was heißt das denn, Gott lieben? Heißt das: Den korrekten Gottesdienst feiern, Gott mit dem korrekten Namen ansprechen, der Welt entsagen, den ganzen Tag beten, am besten ins Kloster gehen, um nur ja nicht abgelenkt zu werden von der Liebe zu Gott?

Nun, es gibt Menschen, die gehen ins Kloster, und das ist auch in Ordnung, wenn das ihrem Glauben entspricht. Aber Jesus hat so nicht gelebt. Ja, er ist in den Tempel gegangen wie alle frommen Juden zu seiner Zeit. Aber er hat darin nicht die Erfüllung der Gottesliebe gesehen.

 

***

Jesus steht in einer Traditionslinie mit den sogenannten kultkritischen Propheten, und sein Gesprächspartner anscheinend auch. Denn der Schriftgelehrte antwortet Jesus, als der das Doppelgebot der Liebe zitiert hat: „Ja, Rabbi, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“

Man muss wissen, dass es zur Zeit Jesu zwei Hauptströmungen im jüdischen Glauben gab: die Tempelfrömmigkeit und das, was ich die rabbinische Spiritualität nennen würde, die eher in den Synagogen zu  Hause war und auf den Marktplätzen. In diesen beiden Strömungen, die durchaus in Spannung zueinander standen, spiegelt sich der alte Konflikt des Volkes Israel: der Konflikt zwischen Priester und Prophet.

Die Priester, die waren für den Kult zuständig, für den Gottesdienst, und das hieß vor allem: für die Opfer im Tempel von Jerusalem. Brandopfer und Schlachtopfer, wie der Gesprächspartner Jesu sagt. Für diese Art der spirituellen Praxis war es wichtig, dass die Opfer auf die vorgeschriebene Weise dargebracht wurden, dass die Opfertiere makellos waren, die richtigen Gebete zur richtigen Zeit gesprochen wurden, und Jerusalem war der einzige wahre Ort für diese Art Gottesdienst.

Dem gegenüber steht die Spiritualität der Rabbinen, die draußen auf dem flachen Land lebten und sich in den Synagogen trafen, die es in jedem Dorf gab. Sie standen dem Tempelkult eher kritisch gegenüber, legten mehr Wert auf das gute Miteinander der Menschen. Mehr Wert auf einen Alltag, der Gottes Willen entspricht, als auf die richtigen Opfer. Darin folgen sie den Propheten Israels.

Unter den Propheten findet sich einiges an sehr herber Kritik am Tempelkult, und zwar deshalb, weil die Gefahr bestand, dass der Tempelgottesdienst und die Opfer als Ersatzhandlung missbraucht wurden. Es scheint zum Beispiel möglich gewesen zu sein, dass jemand den eigenen Eltern die finanzielle Altersversorgung entzog mit der Begründung, er habe die entsprechende Summe dem Tempel als Weihegabe gelobt – eine Praxis, die Jesus scharf kritisiert hat. Oder allgemein gesagt: Wenn es die Möglichkeit gibt, sich durch ein Opfer oder ein Ritual von Schuld zu befreien, besteht immer die Gefahr, diese Möglichkeit zu missbrauchen. Etwas karikiert: Ich kann machen, was ich will, am Versöhnungstag bringe ich das entsprechende Opfer und alles ist wieder gut.

Das hat mit Liebe zu Gott nichts zu tun. Zu einer derartigen Praxis sagt zum Beispiel der Prophet Amos:

„Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“ Das hat den Tempelsängern wahrscheinlich nicht gefallen, dass ihre Lieder als „Geplärr“ bezeichnet wurden, und den Priestern dürfte es nicht gepasst haben, dass Amos die Opfer so in Bausch und Bogen abtut. Aber Amos hat auch eine Alternative: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“, fährt er fort. Darum geht es. Die Tempelgottesdienste sind nicht an sich schlecht, sie dürfen nur nicht zum Ersatz werden für Recht und Gerechtigkeit.

In genau diese Tradition stellt sich Jesus später, wenn er den Tempel „reinigt“, wie man so schön sagt. Er hat sich nicht über den Trubel der Devotionalienhändler aufgeregt, und er war auch nicht entsetzt und jähzornig wegen des Lärms. Der Lärm der Händler und Wechsler hat den Tempel nicht entheiligt, er gehörte zum Tempelkult dazu. Als Jesus sich seine Geißel aus Stricken machte, die Tische der Geldwechsler umstieß und die Opfertiere freiließ, war das eine wohl kalkulierte prophetische Zeichenhandlung, und die Priester haben diese Handlung sehr wohl verstanden – zumal Jesus während dieser Aktion einen anderen Propheten zitierte, nämlich Hosea: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“

Gott lieben, das heißt also etwas ganz anderes. Wir sollen Gott lieben, indem wir unsere Mitmenschen lieben. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen, das sind nicht zwei Paar Stiefel, sie gehören untrennbar zusammen, gewissermaßen wie die zwei Seiten einer Medaille. Der 1. Johannesbrief fasst es ein paar Jahrzehnte später so zusammen: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.“

Das ist der Kern des Glaubens, das ist das höchste Gebot. Die Liebe zu Gott drückt sich in der Nächstenliebe aus. Jesus lehrte keine Entsagungsreligion und keine Erlösungsreligion, er lehrte eine Religion der Liebe. Und das entspricht ganz seinen jüdischen Wurzeln. Er hat das nicht erfunden. Er hat es allerdings radikalisiert, er hat die Liebe entgrenzt.

Die hebräische Bibel sagt: Gott liebt uns Menschen zuerst. Er hat sein Volk aus dem Sklavenhaus geführt. Er hat denen, die Fremdlinge waren, eine Heimat gegeben. Deswegen, weil sie es selbst erfahren haben, sollen sie andere befreien und nicht unterdrücken. Deswegen sollen sie Fremdlinge aufnehmen und gut behandeln. Und so sollen auch wir handeln, statt vermeintlich patriotisch unser sogenannt christliches Abendland gegen die angebliche Islamisierung abzuschotten.

„Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt“, so lesen wir ebenfalls im 1. Johannesbrief. „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ Mehr braucht es nicht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, dem großen Liebenden. Amen.

 

Bildnachweis: Jesus, der Jude. Aus der Abeitshilfe „Die Wurzeln unseres Glaubens“, https://www.arbeitshilfe-christen-juden.de/themen/konfirmandenunterricht/wurzeln

 

 

 

Was ist heilig?

Sacred

 

Predigt in St. Markus München am Sonntag, 8. März 2020

 

Diese Predigt ist Teil einer Predigtreihe zum Thema „Begegnungsräume“ und trägt eigentlich den Titel: „Begegnung zwischen Gott und Welt“. Ich finde aber, sie passt sehr gut in meine „Was ist…?“-Reihe.

 

Vor vielen Jahren war es, in einer anderen Gemeinde. Wir feierten das Sommerfest und wie so oft beim Sommerfest war das Wetter nicht besonders schön. Unfreundlich und – wie der Wetterbericht zu sagen pflegt – für die Jahreszeit zu kühl. Nach dem Familiengottesdienst begann es leicht zu nieseln. Eine ganze Schar Kinder flüchtete sich in die Kirche und spielte Fangen zwischen den Kirchenbänken. Da kam ein älterer Herr zu mir und sagte streng: „Herr Pfarrer, ich dachte immer, die Kirche sei das Haus Gottes!“ Ich war verblüfft, allerdings nicht so verblüfft, dass mir nicht noch die Antwort eingefallen wäre: „Ja, und mein Gott mag spielende Kinder.“

Was hat diesen Herrn zu seiner kritischen Bemerkung bewegt? Anscheinend hat er Anstoß genommen an dem Lärm, den spielende Kinder nun einmal verursachen, und vielleicht auch an der Fröhlichkeit, die sie ausstrahlen. Sein Gott ist anscheinend streng und ernst. Und heilig. In seiner Nähe muss man auf Zehenspitzen gehen und darf nur flüstern – und eins darf man ganz sicher nicht: lachen.

Diese Haltung ist weit verbreitet. Sie ist sicher religiös. Aber christlich? Christlich ist eine solche Haltung nicht. Denn für Christen hat die Heiligkeit Gottes nichts damit zu tun, dass man ängstlich jeden Anschein von Lebendigkeit vermeidet.

Aber noch einmal. Als religiös kann man diese Haltung wohl wirklich bezeichnen. Es ist geradezu ein Kennzeichen der meisten Religionen, dass sie heilige Bezirke kennen, in denen man sich nicht so verhalten darf wie im Rest des Lebens. In denen Stille zu herrschen hat, Ehrfurcht, ein bisschen Befangenheit. In denen laute Lebensäußerungen nicht erwünscht sind – Lachen eben, aber auch Niesen oder gar Gähnen…

Wie kommt das?

Ich glaube, das steckt von Anfang an in der DNA der Religion, dass es heilige Orte gibt, und auch heilige Handlungen, heilige Gegenstände und heilige Personen.

Ich glaube, so ist Religion überhaupt entstanden: Schon die allerersten Menschen, die gerade erst ein Bewusstsein für sich selbst entwickelt hatten, erlebten immer wieder Momente, in denen die Welt durchsichtig wurde für eine tiefere Dimension. Momente, in denen die Menschen eine Ahnung bekamen – oder auch eine Gewissheit –, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde als das, was die Augen sehen. Die Menschen dachten damals sehr konkret, und so meinten sie: Wenn mir dieses Erlebnis hier widerfahren ist, dann muss das daran liegen, dass hier ein besonderer Ort ist – ein Ort, an dem die Wand zwischen dem Diesseits, zwischen der Welt der Menschen, und dem Jenseits, der Sphäre des Göttlichen, sehr dünn ist. Hier, an diesem Ort, kann man dem Göttlichen nahe sein. Hier ist ein heiliger Ort.

Eine Geschichte, die diesen Vorgang beschreibt, kennen manche vielleicht noch aus dem Religionsunterricht: Jakob, einer der Erzväter Israels, schläft unter freiem Himmel und träumt von einer Leiter, die da steht und an der Engel, Boten Gottes, hinauf und herunter steigen. Er erwacht und sagt: „Ja, wirklich, hier ist das Haus Gottes, und ich wusste es nicht.“ Er richtet einen Stein auf als Denk-Mal und als Altar, und fortan ist dieser Ort heilig: Beth-El, Gottes Haus.

So etwas gibt es aber nicht nur in der Bibel, es gibt diese Geschichten um heilige Orte in allen Religionen. Alle Religionen kennen heilige Berge, heilige Flüsse, heilige Felsen, heilige Bäume: Orte, an denen man Gott – angeblich – ganz besonders nahe kommt.

Und an solchen Orten wurden dann Heiligtümer gebaut. Tempel, oder in unserem schönen Oberbayern Kapellen, Klöster und Kirchen.

Im Tempel war alles anders. Um ihn zu betreten, musste man sich reinigen – so wie sich Muslime bis heute Hände, Füße und Gesicht waschen, bevor sie die Moschee zum Gebet betreten. Es gab und gibt besondere Bezirke in der Tempelanlage, die niemand betreten darf außer besonders geschulten und geweihten Menschen, Priesterinnen und Priester, Vestalinnen oder Tempeldiener. In vielen katholischen Kirchen gilt der Altarraum als besonderer Raum, den man gar nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres betreten darf. Oft ist er abgetrennt mit einer Kordel. Denn da, am Altar, wird die heilige Handlung vollzogen, vom geweihten Priester, heiliger geht es kaum.

Dieses Prinzip der Heiligkeit spielte vor allem auch im Tempel in Jerusalem eine ganz entscheidende Rolle. Er war aufgebaut wie eine Zwiebel: In den äußersten Mauerring, den Vorhof der Heiden, durften alle Menschen. Dann kam der Vorhof der Frauen, den nur noch Angehöriger des jüdischen Volkes betreten durften, des Volkes Gottes, das mit Gott in inniger Verbindung steht, weil Gott es auserwählt hat unter allen anderen Völkern. Dann kam der Vorhof der Männer, den auch jüdische Frauen nicht betreten durften, denn Frauen galten von ihrem Wesen her als weniger rein und heilig als die Männer. Patriarchale Zeiten, die Gottseidank vorbei sind.

Schließlich gab es den Vorhof der Priester, den nur Tempeldiener und Priester betreten durften, in dem die Opfer abgehalten wurden. Dann erst kam das Heiligtum, das eigentliche Tempelgebäude. Da hinein ging eigentlich niemand, und in dem Heiligtum gab es eine innerste Kammer, das Allerheiligste, das von einem bodenlangen Vorhang verhüllt war. Dieser Raum war leer – anders als in den Tempeln anderer Religionen stand dort kein Götterstandbild. Denn der Gott Israels ist so heilig, dass man ihn nicht abbilden kann und darf. In diesen Raum ging ein einziges Mal im Jahr, am Versöhnungstag, ein einziger Mensch: der Hohepriester, zum Opfer. Einmal im Jahr, die übrigen 364 Tage stand der Raum immer leer – das heißt, nach Überzeugung der Juden war er natürlich nicht leer, sondern angefüllt mit Gottes Heiligkeit, mit Gottes Herrlichkeit, wie es auch hieß.

Gott, so wird es in der Hebräischen Bibel immer wieder dargestellt, Gott ist so heilig, dass man ihn nicht einmal ansehen kann, man würde auf der Stelle tot umfallen. Gott ist erhaben, riesig, unnahbar. Heilig, heilig, heilig.

Das heißt aber auch: Die Welt der Menschen ist nicht heilig. In ihr gelten andere Gesetze und Regeln. Zwar hat Gott auch für den Alltag der Menschen Gesetze gegeben, aber Gott selbst ist ja nicht da, er ist ja der Welt enthoben in seiner Heiligkeit. Und dieser Gedanke führte oft zu einem fatalen Missverständnis: Die Menschen benahmen sich in ihrem Bereich, der sogenannten profanen Welt (von pro-fanum, vor dem Heiligtum), die Menschen benahmen sich also nach ihren eigenen Regeln. Dann gingen sie am Versöhnungsfest in den Tempel zum heiligen Gott, brachten die vorgeschriebenen Opfer dar und alles war wieder gut.

Gegen dieses Missverständnis, oder auch: gegen diesen Missbrauch protestierten die Propheten heftig. Amos beispielsweise. „Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“ Der ganze Gottesdienst, der ganze Tempelkult nutzt nichts, wenn die Menschen sich nicht an Gottes Lebensregeln halten und einander lieben und achten: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Oder Jeremia: „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier! Vielmehr: Bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen keine Gewalt übt … Dann will ich euch immer und ewiglich wohnen lassen an diesem Ort, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe.“

Der Tempel, der Gottesdienst an sich nützt gar nichts, wenn das Leben der Menschen nicht von Liebe und gegenseitiger Achtung geprägt ist.

Und in diese Tradition stellt sich auch Jesus, wenn er den Tempel „reinigt“. Er geht in den Vorhof der Heiden, stößt die Tische der Wechsler um, lässt die Tauben frei und verhindert, dass irgendetwas durch den Tempel getragen wird. Viele meinen, es war ihm zu geschäftig, zu unruhig, zu „weltlich“, so als würden die Geschäfte der Händler und Wechsler Gottes heilige Ruhe stören.

Aber nein: Händler und Wechsler waren tief religiöse Einrichtungen. Sie waren unabdingbar, um den Opferbetrieb aufrecht zu erhalten. Sie verkauften Opfertiere und wechselten die heidnischen römischen Sesterzen in Tempelgeld um, damit man „reines“, „heiliges“ Geld in den Klingelbeutel werfen konnte.

Jesus zitiert den Propheten Jesaja, der Gott sagen lässt: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.“ Auch Jesus sagt also: Den ganzen Tempelgottesdienst könnt ihr euch sparen, wenn ihr nicht mit euren Mitmenschen in Liebe und Achtung umgeht.

Mit einem anderen Bild: Gottesdienst, das ist nicht die Zeit am Sonntag zwischen 11.15 und 12.30 Uhr. Gottesdienst, das ist auch die Zeit von Sonntag 12.30 Uhr bis am nächsten Sonntag um 11.15 Uhr. „Euer ganzes Leben sei ein vernünftiger Gottesdienst“, so formuliert es Paulus. Euer ganzes Leben, nicht nur eine Stunde in der Woche.

 

***

Wo begegnen Menschen nun also Gott? Wir Christen glauben, dass es dazu keine besonderen Orte braucht. Gott begegnet uns in unseren Mitmenschen, besonders in denen, die leiden. Gott ist nicht in einem fernen Jenseits zu finden, in einem heiligen Bezirk, den man nicht betreten darf.

Und deswegen verlasse ich jetzt diesen fernen, hervorgehobenen Ort hier oben. So wie sich Gott unter den Menschen finden lassen will, so soll das Wort von Gott, so soll die Predigt unter die Menschen kommen.

Der Prediger verlässt die Kanzel und
begibt sich nach unten in den Kirchenraum

Die Evangelien bieten ein eindrückliches Bild. In dem Augenblick, in dem Jesus stirbt, so berichten Matthäus, Markus und Lukas, da zerreißt der Vorhang im Tempel, der das Allerheiligste abtrennt, entzwei, „von oben an bis unten aus“. Das Allerheiligste ist enthüllt, es ist nicht mehr abgetrennt. Die Trennung zwischen heilig und profan, sie ist aufgehoben und gilt nicht mehr. Gott ist nicht im Jenseits zu finden, sondern hier, mitten unter uns, inwendig in uns. Wir können Gott begegnen an allen möglichen Orten, wir können auf Gott treffen in der tiefsten Tiefe unseres Herzens, wir begegnen Gott in unseren Mitmenschen, besonders in denen, die leiden. „Was ihr einem der geringsten meiner Geschwister getan hat“, sagt der Mensch gewordene Gott, „das habt ihr mir getan.“

Gott ist nicht da oben, er ist hier unten. Deswegen werden wir das Abendmahl heute nicht am Altar feiern, denn der Altar ist kein besonders heiliges Möbelstück. Wir werden das Abendmahl hier feiern, wo wir den Kirchenkaffee teilen, wo wir normalerweise nach dem Gottesdienst zusammenstehen, um zu reden und beieinander zu sein. Denn heilig, das sind nicht irgendwelche ausgesonderten Bezirke oder Zeiten oder Menschen. Heilig, das seid ihr alle. Euer Leib, schreibt Paulus, ist ein Tempel des Heiligen Geistes. Ihr alle seid Gottes geliebte Kinder und habt damit Anteil an Gottes Heiligkeit. Ihr seid heilig. Alle. Ohne Ausnahme. Denn heilig sein, das heißt nicht: besonders gut oder moralisch sein. Heilig sein, das heißt ganz einfach: von Gott geliebt sein.

 

***

Natürlich mag es auch weiterhin Orte geben, an denen es Menschen leichter fällt, die Gegenwart Gottes zu ahnen. Orte, an denen die Welt leichter durchsichtig wird für die andere, tiefere Dimension der Welt. Das können sogenannte erhabene Orte sein in der Natur, das können auch Kirchen sein, die mit der Kraft vieler Gebete gleichsam aufgeladen sind. Und es mag auch sinnvoll sein, dass es in einer Kirche die meiste Zeit still ist – einfach weil die Menschen Orte der Stille brauchen, gerade hier in der Großstadt.

Aber wenn dann einmal Kinder jauchzend durch die Kirche rennen, wenn dann einmal hier in dieser Kirchenhalle ein Ball stattfindet und das Tanzbein geschwungen wird, wenn Menschen hier essen und trinken, diskutieren und streiten, feiern und lachen – dann stört das Gott nicht. Gott ist gegenwärtig, hier wie anderswo und überall, und Gott freut sich mit denen, die sich freuen. Gott trauert mit denen, die traurig sind. Gott lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden und tröstet alle, die seinen Trost suchen, hier an diesem Ort und an jedem, an jedem anderen Ort der Welt. Kein Ort der Welt ist gottlos, kein Ort ist Gottes leer.

Begegnung zwischen Gott und Welt – die geschieht immer und überall, in jeder Sekunde, an jedem Ort. Auch hier und heute, in diesem Augenblick.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Bruder, dem Gegenwärtigen, immer und überall – und das heißt: hier und jetzt. Amen.

 

Foto: Pixabay

Ich glaube; hilf meinem Unglauben

Regenschirm beschnitten

 

Predigt an Silvester 2019 in St. Markus über die Jahreslosung 2020

 

Was wäre das Leben ohne Widersprüche?

Liebe Gemeinde, auch wenn wir uns oft nach Eindeutigkeit sehnen, das Leben ist oft widersprüchlich. Und das ist gut so. Finde ich jedenfalls. Und es kann auch gar nicht anders sein. Die ganze Schöpfung ist ungenau und widersprüchlich. Das geht schon los mit den kleinsten Bausteinen der Materie, den Elementarteilchen. So ein Elektron scheint sich nicht entscheiden zu können, ob es ein materielles Partikel ist oder nicht doch eher eine Welle, eine immaterielle Bewegung im leeren Raum. Da gibt es keine Eindeutigkeit.

Und im größeren Maßstab, bei uns Menschen, zeigt sich die Widersprüchlichkeit auch. Besonders da, wo es um die Gefühle geht. Wer kennt nicht die sogenannten gemischten Gefühle, den Gefühlswirrwarr, die zwei Herzen, ach! in der Brust?

Ich möchte so gerne… aber es macht mir Angst. Ich verabscheue etwas zutiefst, und doch übt es eine ungeheure Faszination auf mich aus – vielleicht gerade wegen der Abscheu! Ich liebe jemand, und gerade deswegen kann diese Person auch Angst, Abwehr oder sogar Hass auslösen.

Sosehr wir uns Eindeutigkeit wünschen mögen, wir bekommen sie nicht. Und ich denke, das ist auch ganz gut so. Denn wir selbst sind nicht eindeutig. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, heute so, morgen anders, und doch sind und bleiben wir derselbe Mensch.

Was wäre das Leben ohne Widersprüche? Einfacher vielleicht, aber doch sicher auch langweilig. Eindimensional. Platt.

Was für die Gefühle gilt, gilt nach allem, was ich weiß, auch und erst recht für den Glauben. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Ja, in diesem Satz kann ich mich wiederfinden. Ehrlich gesagt, dieser Satz gehört zu meinen Lieblingssätzen in der Bibel. Und ich freue mich, dass er als Jahreslosung für das Jahr ausgewählt wurde, das in wenigen Stunden beginnt.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Was heißt das eigentlich, glauben?

Glauben heißt nicht wissen, das ist klar. Wie spät ist es? Ich glaub, ungefähr halb sechs oder so. Das heißt, ich weiß es nicht genau, ich nehme es halt mal an.

Wann lebte Goethe? Ach ich glaube, das war so im 18. oder 19. Jahrhundert. Ich glaube, er ist so um 1830 rum gestorben. Naja, nicht schlecht geraten, er starb 1832 – das kann man wissen.

Ich denke, es ist klar, dass es bei dem Glauben, von dem hier die Rede ist, um etwas anderes geht als dieses Ungefähre, dieses Raten.

Was dann? Ich kann glauben, dass etwas wahr ist. Ein Bekannter kommt zu spät zur Verabredung und entschuldigt sich damit, dass sein Fahrrad einen Platten hatte und er es erst reparieren musste. Das kann ich glauben oder nicht, ich kann es ihm abkaufen oder ich bin misstrauisch. Ach, diese Ausreden kenne ich, und dass mein Bekannter irgendwelche Ausreden erfindet, habe ich schon öfter erlebt. Ich glaube ihm das also eher nicht. Oder: Ich kenne ihn als zuverlässigen Menschen, als grundehrliche haut. Dem glaube ich alles.

Das heißt zum einen: Ich gehe davon aus, dass die Information, die mein Bekannter mit gibt, wahr ist – oder eben nicht wahr. Glauben heißt in diesem Fall: Ich halte etwas für wahr. Wenn ich sage: Ich glaube, dass Jesus übers Wasser gelaufen ist, das würde dann heißen: Wenn die Jünger damals schon Handys gehabt hätten, hätten sie es filmen können, wie Jesus über die Wellen geht. Das ist eine Bedeutung des Wortes „glauben“, Ich halte etwas für wahr. Aber meiner Meinung nach ist das eine eher schwache Bedeutung. Darum geht es nicht wirklich, ob etwas tatsächlich so geschehen ist oder nicht. Mein Glaube hängt nicht daran, dass alles in diesem buchstäblichen Sinn wahr ist, was in der Bibel steht. Dass die Welt in 6 x 24 Stunden erschaffen wurde vor gut 6000 Jahren. Und dass die Sonnen  gut einen ganzen Tag lang stillstand über Gibeon, bis die Israeliten ihre Feinde geschlagen hatten.

Wenn es beim Glauben nicht um die buchstäbliche Faktizität geht, worum geht es dann?

Gehen wir noch einmal zurück zu meinem verspäteten Bekannten. Ich glaube ihm seine Ausrede nicht, weil ich schon öfter erlebt habe, dass er sich mit einer Notlüge herauswindet. Das heißt, ich traue ihm nicht. Oder umgekehrt, ich traue ihm, weil ich ihn als ehrliche Haut kenne.

Damit sind wir bei einer weiteren Bedeutung des Wortes „glauben“: Es geht um das Vertrauen. Und damit sind wir beim Kern der Sache. Der Glaube, um den es in der Bibel und beim Christsein geht, ist weniger von der Sorte: Ich glaube, dass das wahr ist, sondern eher von der Sorte: Ich glaube dir. Ich vertraue dir. Da geht es nicht um Informationen, die eben wahr sein können oder nicht. Es geht um eine Beziehung. Darum, ob ich mich verlasse auf den anderen.

Das ist übrigens ein sehr sprechender Ausdruck. Ich verlasse mich. Das heißt, wörtlich: Ich gehe weg von mir. Ich verlasse mich auf dich – ich vertraue darauf, dass du mich nicht fallen lässt.

Ich glaube; hilf meinem Unglauben.

So ist das mit dem Glauben. Ja, ich möchte mich darauf verlassen, dass du es gut mit mir meinst, und manchmal gelingt es mir auch. Aber gerade wenn es um den Glauben geht, sind wir Menschen oft widersprüchlich. Ich glaube; hilf meinem Unglauben. Ich verlasse mich, und dann bekomme ich doch wieder Angst. Klassisch ist das ausgedrückt in der Geschichte, auf die ich eben schon kurz angespielt habe, in der Geschichte, in der Jesus übers Wasser geht. Die Jünger sind in einem Boot auf dem See Genezareth, das Boot gerät in einen Sturm, da sehen sie Jesus durch den Sturm auf dem Wasser zu ihnen kommen. Nach dem ersten Schrecken steigt Petrus, der Draufgänger unter den Jüngern, aus dem Boot. Er verlässt sich, und zwar auf das Wort von Jesus. Und siehe da: Auch er kann übers Wasser laufen. Doch dann sieht er plötzlich die hohen Wellen, spürt den Sturm sausen, und er denkt sich: Um Himmel willen, was mache ich da! Bin ich denn verrückt? Und in diesem Moment geht er unter. Das Vertrauen hat ihn verlassen, die Angst hat gesiegt.

Ich glaube; hilf meinem Unglauben.

Diesen Satz, der als Jahreslosung 2020 ausgewählt wurde, haben wir vorhin im Zusammenhang gehört. Da ist dieser Vater, dessen Sohn epileptische Anfälle hat – jedenfalls ist das wahrscheinlich die medizinische Diagnose, so würden wir es heute sagen. Damals sprach man von Dämonen, weil das in das damalige Weltbild passte.

Der Vater bringt sein krankes Kind zu dem berühmten Wunderheiler. „Hilf uns, wenn du kannst!“

Die Antwort von Jesus finde ich sehr bezeichnend. Er sagt nicht: Klar, ich kann das, ich bin der berühmte Wunderheiler und außerdem Gottes Sohn. Lass mich nur machen.

Jesus sagt: „Wenn du kannst? (Das heißt: Es geht nicht darum, ob ich etwas kann oder nicht, sondern:) Für den, der glaubt, ist alles möglich.“

Für den, der glaubt, ist alles möglich. Jesus kann nicht deswegen heilen, weil er so besondere Kräfte hat, sondern weil er selbst aus dem Vertrauen lebt, weil er selbst sich verlässt.

Und dann bricht es aus dem Vater heraus: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“

Darin ist dieser Vater uns allen wahrscheinlich sehr ähnlich. Manchmal ist alles klar, Gott ist nah, wir spüren seine Liebe und Nähe wie die Sonne auf dem Gesicht an einem schönen Tag. Das Leben ist schön und die Welt ist gut. Und manchmal ist alles weg, wir fühlen uns allein und verlassen und können gar nicht mehr verstehen, dass wir einmal dieses Vertrauen hatten.

Glaube und Unglaube, Glaube und Zweifel sind Geschwister.

Und das ist auch gut so. Stell dir einen Menschen vor, der fest und unerschütterlich an seinen Überzeugungen festhält. Der keinerlei Zweifel kennt – oder keinen Zweifel zulässt. Der immer genau weiß, was gut ist und was böse, was richtig ist und was falsch.

Ehrlich gesagt: Mit so einem Menschen möchte ich nicht zusammenleben.

Zweifel, dieses Schwanken zwischen Glaube und Unglaube, das heißt ja auch, dass ich mich immer wieder infrage stellen lasse. Dass ich immer mal wieder überprüfen muss, ob meine Grundannahmen noch stimmen, ob meine Überzeugungen noch zu meinem Leben passen. Denn die Welt ändert sich unaufhörlich, ich selbst ändere mich, ich werde älter, hoffentlich gescheiter, vielleicht auch nur desillusioniert, wie auch immer. Ich bleibe nicht derselbe Mensch, der ich war. Und manche Überzeugungen stellen sich als falsch heraus. Oder sie werden mir zu eng, so wie mein Konfirmationsanzug, den ich vor 50 Jahren bekam und den ich heute heftig sprengen würde.

Wichtig ist es nicht, unerschütterlich festzuhalten an immer demselben. Wichtig ist, dass ich mich immer wieder neu einlasse auf den, der mein Leben trägt und hält. Dass ich vertrauensvoll einen neuen Schritt wage. Das muss nicht so spektakulär sein, wie der Schritt von Petrus aus dem Boot aufs Wasser im Sturm.

Es gibt in unserem Leben ganz andere Herausforderungen. Und die Frage ist: Gehe ich meine Herausforderungen an mit ängstlichem Zaudern, weil man ja nie wissen kann, was herauskommt? Oder gehe ich sie an im Vertrauen? Vertraue ich in die Kraft des Lebens, in den Grund meines Seins – in Gott, der will, das ich lebe?

Das bedeutet dann noch keine Erfolgsgarantie. Jesus selbst hatte, menschlich gesehen, keinen Erfolg. Das Reich Gottes, von dem er gesprochen hat, ist nicht so gekommen, wie er selbst das möglicherweise erwartet hat. Er wurde nicht zum König gekrönt. Er wurde verraten und verkauft und aufgehängt.

Und doch ist er seinen Weg gegangen im Vertrauen auf den Gott, der das Leben will, der das Leben hält und trägt. Und an ihm können wir sehen, dass es weitergehen kann. Dass der Weg manchmal durch das Scheitern hindurch führt, durch das Leiden, durch die Niederlage. Denn wir Christen bekennen, dass Christus auferstanden ist. Damit sagen wir, dass Verrat und Folter, Leiden und Tod nicht das Letzte sind. Dass der Weg zu einem sinnvollen, erfüllten Leben nicht unbedingt über die Erfolgsstrecke läuft.

Das Vertrauen in Gott, der das Leben will, bedeutet nicht, dass wir vom Leiden verschont bleiben. Das Leben führt uns oft nicht ums Leiden herum, sondern mitten hindurch. Warum das so ist, wissen wir nicht. Aber wir können die Erfahrung machen, dass das Leiden uns vertiefen kann, dass es uns verändern kann. Dass wir menschlicher werden, wenn wir nicht nur die lichten Höhen kennen, sondern auch die finsteren Täler.

Wer alles Leid und jede Niederlage vermeiden will, bricht am besten gar nicht auf. Wer an ein Ziel kommen will, muss Schritte ins Unbekannte tun, in Neuland. Da kann es passieren, dass nicht alles nach Plan läuft. Dass ich nicht ans Ziel komme – oder an ein ganz anderes Ziel, als ich ursprünglich vorhatte.

Und dennoch breche ich auf. Weil ich vertraue, dass ich nicht allein unterwegs bin. Weil ich mich verlasse, mich verlasse darauf, dass mein Leben Sinn hat, und dass sich dieser Sinn manchmal gerade dann zeigt, wenn es so gar nicht danach aussieht.

Ich glaube; hilf meinem Unglauben. Ich nehme meinen Unglauben mit, meine Zweifel, meine Unsicherheit. Und mache trotzdem meinen nächsten Schritt. Ins neue Jahr, in den nächsten Tag.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, der mit uns geht und uns begleitet auf dem Weg zum Leben. Amen.

 

Was ist der Christus?

Christus Pantokrator von Cefalú, Sizilien

 

 

Predigt am 8. September 2019

 

Was ist der Christus?

Liebe Gemeinde, vielleicht meint mancher, diese Frage sei falsch gestellt. Muss es nicht heißen: Wer ist der Christus? Und dann würde die Antwort etwa so lauten: Der Christus, das ist Jesus, Gottes Sohn.

Wie Sie sich vielleicht denken können, habe ich die Frage mit Absicht nicht so formuliert. „Wer ist der Christus?“, das klingt ungefähr so wie: „Wer ist der Maier?“ So, als wäre „Christus“ der Nachname für Jesus, im Grunde austauschbar. In der Tat, wir gebrauchen das Wort „Christus“ ganz oft wie den Nachnamen. Jesus Christus, das ist so etwas wie Franz Maier.

Dabei wissen Sie wahrscheinlich, dass das so nicht stimmt. Zur Zeit von Jesus gab es in Palästina gar keine Nachnamen, und Jesus, Jeschua, war damals kein seltener Rufname. Wollte man diesen Jesus von anderen Jesussen unterscheiden, sagte man: Jesus, der Sohn des Joseph, aus Nazareth.

Und Christus, das ist gar kein Name. Christus ist ein Titel. Ein Ehrentitel. Auch das wissen wahrscheinlich die meisten, deswegen mache ich es jetzt hier ganz kurz: Christus ist die griechische Form des hebräischen Wortes Messias und heißt zu Deutsch: der Gesalbte. Gesalbt wurden nach der Hebräischen Bibel die Könige Israels. Heute würde man also vielleicht sagen: „der Gekrönte“.

Wenn die Juden zur Zeit Jesu vom Messias sprachen, dann meinten sie damit den König, der kommen sollte, um dem Volk seine frühere Größe und Macht zurückzugeben, die es unter dem legendären König David hatte, tausend Jahre vorher. Messias war ein politisch-militärischer Titel.

So gesehen, ist Jesus von Nazareth nicht der Christus, nicht der Messias, oder aber er ist grandios gescheitert. Denn er hat das Volk Israel nicht von den Römern befreit. Und als er Jerusalem im Sturm einnahm, ritt er nicht auf einem Schlachtross, sondern auf einem Esel, und seine „Soldaten“ hielten keine Schwerter in der Hand, sondern harmlose Palmwedel. Und das Ganze endete nicht mit der Machtergreifung. Jesus bestieg nicht den Thron, sondern das Schafott, beziehungsweise das Kreuz, das eine viel grausamere Hinrichtungsmethode war als Schafott oder Galgen.

Doch hier, am Tiefpunkt, beginnt sich alles zu wandeln. Seine Anhängerinnen und Anhänger machten eine neue, ungeheuerliche Erfahrung, und sogleich verbreiteten sie eine neue, ungeheuerliche Botschaft: „Jesus ist auferstanden von den Toten.“

Durch dieses Bekenntnis, durch die Botschaft von der Auferstehung,  bekam die Aussage: „Jesus ist der Christus“ eine ganz andere Bedeutung. Der
Titel „Christus“, Messias, bezieht sich auf ein-mal nicht mehr auf einen politisch-militärischen Führer.

Schon 25 oder 30 Jahre nach der Hinrichtung Jesu schreibt Paulus in einem Brief an die Gemeinde in Philippi in Griechenland: Er [Christus], der Gott in allem gleich war und auf einer Stufe mit ihm stand, nutzte seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil aus. Im Gegenteil: Er verzichtete auf alle seine Vorrechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde einer von uns – ein Mensch wie andere Menschen. Aber er erniedrigte sich ´noch mehr`: Im Gehorsam gegenüber Gott nahm er sogar den Tod auf sich; er starb am Kreuz ´wie ein Verbrecher`. Deshalb hat Gott ihn auch so unvergleichlich hoch erhöht und hat ihm ´als Ehrentitel` den Namen gegeben, der bedeutender ist als jeder andere Name.

„Er, der in göttlicher Gestalt war, der Gott gleich war.“ Das ist nun schon etwas anderes als ein König und Heerführer. Die Botschaft von der Auferstehung hat alles verändert. Nun bekennen die Anhängerinnen und Anhänger dieses Jesus, dass er Gott gleich ist. Nicht war, sondern ist. Denn seit der Auferstehung ist auch klar, dass Jesus lebt, in Ewigkeit, so wie Gott.

Und weitere zehn Jahre später, ungefähr im Jahr 70 nach Christus, schreibt Paulus oder einer seiner Schüler an die Gemeinde in der kleinasiatischen Stadt Kolossä: „Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, der über der gesamten Schöpfung steht. Denn durch ihn wurde alles erschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Könige und Herrscher, Mächte und Gewalten. Das ganze Universum wurde durch ihn geschaffen und hat in ihm sein Ziel. Er war vor allem anderen da, und alles besteht durch ihn.“

Christus ist Gott gleich, und durch ihn ist alles geschaffen. Das ist tatsächlich ein ziemlich anderes Bild als das von einem politisch-militärischen Führer des jüdischen Volks. Damit hat sich die junge Gemeinde aus dem Rahmen des Judentums hinausbewegt. Sie bekommen nun auch einen anderen Namen, man bezeichnet sie nun als Christen, Anhängerschaft des Christus. Eine neue Religion ist entstanden.

Denn die Christen nennen sich nach dem Christus, durch den – wie der Kolosserbrief schreibt – alles geschaffen wurde und in dem alles besteht, der Gott gleich ist, in göttlicher Gestalt.

Mit diesem neuen Bild entstand auf einmal ein ganz neues Problem. Die Christen wollten das Grundbekenntnis ihrer jüdischen Herkunftsfamilie nicht antasten, das Grundbekenntnis, das heißt: „Gott ist einer.“ Das ist ja übrigens das Grundbekenntnis, das Juden und Christen mit ihrer noch jüngeren Schwesterreligion, dem Islam, teilen: „Gott ist einer, es gibt keinen Gott außer Gott.“

Und nun ist da dieses Bekenntnis, dass durch Christus nicht nur alles geschaffen ist, wie es auch im Johannesevangelium heißt: „Alle Dinge sind durch ihn gemacht und ohne ihn ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Nun heißt es sogar, er ist Gott gleich.

Das war wirklich ein Problem. Da gibt es, so sagten die Christen, eine göttliche Kraft und eine göttliche Gegenwart, die unendlich ist, ewig und allmächtig, durch die die Schöpfung geschehen ist und auf die alles am Ende wieder zuläuft. Und diese göttliche Macht und Kraft und Gegenwart brachten sie mit dem Menschen Jesus aus Nazareth in Verbindung. Sie sagten: In diesem Jesus ist uns die Macht Gottes begegnet, die Liebe Gottes, die Gegenwart Gottes, und bestätigt wurde dies, indem Gott diesen Jesus von den Toten auferweckt hat. So warf die Erfahrung der Auferstehung Jesu auch ein Licht zurück auf sein Leben, sein Handeln, seine Worte als Mensch: Schon da, sagten sie, ist uns Gott begegnet. Jesus war ein Mensch wie du und ich, und er war Gott gleich.

Es hat dreihundert Jahre intensiver theologischer Diskussionen und Streitigkeiten gebraucht, bis diese beiden Aussagen unter ein Dach gebracht wurden. Diese beiden Aussagen, die so gegensätzlich scheinen: Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Jesus, der Christus, ist als Mensch über die Erde gegangen, hat gegessen und getrunken, geschlafen und debattiert und gepredigt, und er ist gestorben wie alle Menschen. Und Jesus, der Christus, lebt in Ewigkeit, er ist Gott in allem gleich. Er ist Gott.

Manche sprechen hier vom Kosmischen Christus. Von dem, der von Gott ausgehend den ganzen Kosmos durchweht und durchwaltet und belebt, durch den und auf den hin alles geschaffen ist. Er ist gegenwärtig in allem, was ist. Und er ist Fleisch geworden.

Der amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr, für mich eine der wichtigsten christlichen Stimmen der Gegenwart, weist darauf hin, dass das Johannesevangelium nicht schreibt: Das Wort – damit ist niemand anders gemeint als dieser kosmische Christus –, das Wort wurde Mensch. Nein, es heißt: Das Wort wurde Fleisch – und Fleisch steht in der damaligen Welt einfach für das Materielle, Vergängliche, für all das, was wird und vergeht.

Das Wort wurde Fleisch. Dabei denken wir normalerweise wohl an die Geburt des Jesus aus Nazareth. Aber, so meint Richard Rohr, die erste Inkarnation des kosmischen Christus geschah bereits vor 13,8 Milliarden Jahren, als mit einem gewaltigen Urknall alles in die Existenz sprang, Energie und Materie, Raum und Zeit und die Naturgesetze. Das war die erste Inkarnation, die erste Fleischwerdung des kosmischen Christus.

Und dann wurde dieser kosmische Christus noch einmal Fleisch – als Menschenkind geboren von einer jungen Frau namens Maria, in einem abgelegenen Winkel des damaligen Römischen Weltreiches. Der kosmische Christus erschien seinen Anhängern in dem Menschen Jesus aus Nazareth. Dieser Mensch Jesus war so durchsichtig für den kosmischen Christus, der in ihm lebte, dass die Menschen in seiner Nähe zu ahnen begannen, dass ihnen da nicht nur ein gewöhnlicher Mensch gegenüberstand. Und dann, nach seiner Hinrichtung, machten sie die Erfahrung: Er ist nicht tot, er lebt, Jesus ist auferstanden. Da ging es ihnen allmählich auf: Jesus ist der Christus, der gesalbte Gottessohn, und das hieß nun: Er ist der kosmische Christus, der vor allem war, durch den alles geschaffen ist, was ist, der allem Bestand verleiht, zu dem alles zurückkehrt, der in allem lebt und webt, so wie wir in ihm leben und weben und sind.

Und wir sind seine Geschwister. Die ersten Christen begannen zu entdecken, dass Christus auch in ihnen lebt. Paulus schreibt an einer Stelle: Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Und im Johannesevangelium spricht Jesus immer wieder davon, dass die Jüngerinnen und Jünger in ihm sind, wie er in ihnen ist, und er ist im göttlichen Vater, wie der göttliche Vater in ihm ist. Jesus nannte Gott seinen Vater und ermutigte seine Anhängerinnen und Anhänger, Gott ebenso als ihren Vater anzusehen und anzusprechen.

Das ist das tiefste Geheimnis und meine eigentliche Antwort heute auf die Frage: Was ist der Christus? Der Christus, das ist die Gegenwart des unendlichen Gottes in unserer Welt, in seiner Schöpfung, im ganzen Kosmos, in dir und in mir.

Wenn wir jetzt miteinander das Abendmahl feiern, dann geben wir diesem Bekenntnis bildhaften, symbolhaften, leiblichen Ausdruck. Wir sagen: Du, Christus, lebst in uns, und wir leben in dir. Wir sind dein Leib, du bist unser Leben. Du bist mitten unter uns, und du bist inwendig in uns.

Sie merken es vielleicht schon: Von diesem Geheimnis kann ich gar nicht mehr logisch und diskursiv reden. Davon kann man eigentlich nur noch poetisch reden, hymnisch, so wie es der Kolosserbrief tut:

„Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, der über der gesamten Schöpfung steht. Denn durch ihn wurde alles erschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Könige und Herrscher, Mächte und Gewalten. Das ganze Universum wurde durch ihn geschaffen und hat in ihm sein Ziel. Er war vor allem anderen da, und alles besteht durch ihn.“

Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, dem kosmischen Gottessohn, dem irdischen Bruder. Amen.

Was ist die Schöpfung?

Schöpfung

Bild von Lolame auf Pixabay

 

Predigt am 18. August 2019

 

Liebe Gemeinde,

ich gebe es offen zu: Manche Atheisten gehen mir gehörig auf die Nerven. Und zwar vor allem dann, wenn sie mit einem mitleidigen Lächeln Dinge sagen wie: Das mit Gott ist doch Quatsch. Die Wissenschaft hat doch längst bewiesen, dass die Welt nicht von einem Gott in sechs Tagen erschaffen wurde, sondern in Jahrmilliarden aus einem Urknall entstanden ist.

Okay, sage ich. Und? Meint ihr etwa, das wüssten wir Christen nicht?

Natürlich, es gibt Christen, die meinen, es gehörte zu Christsein dazu, die Geschichte von der Schöpfung am Anfang der Bibel wortwörtlich zu nehmen, als eine Art Reportage. „Wie es damals wirklich zuging“, oder so ähnlich.

Aber diese Christen verwechseln etwas. Sie meinen, die Bibel biete eine Art naturwissenschaftlichen Bericht. Dabei übersehen sie, dass es in der Zeit, in der die Bibel geschrieben wurde, noch gar keine Naturwissenschaft gab. Und dass diese Geschichte eine ganz andere Absicht verfolgt als etwa ein Lehrbuch der Physik oder Biologie.

Die Geschichte, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe, will kein wissenschaftlicher Bericht sein. Sie ist ein Bekenntnis, ein religiöses und politisches Statement.

Sie ist entstanden in einer Zeit, in der das Volk Israel so ziemlich am Ende war. Der König Nebukadnezar von Babel hatte nach einem verheerenden Krieg die Hauptstadt Jerusalem erobert und bis auf die Grundmauern zerstört. Und alle Überlebenden, die irgendwie von Nutzen sein konnten – also alle Handwerker, alle, die lesen und schreiben konnten, die sprichwörtlichen „oberen Zehntausend“, wurden in die Sklaverei fortgeführt, sie mussten Zwangsarbeit leisten und dem verhassten Eroberer dienen.

Nun stellten sich die Menschen damals vor, dass jedes Volk seinen eigenen Gott hatte, und ein Kampf von zwei Völkern gegeneinander war auch ein Kampf ihrer Götter. Der Gott des besiegten Volkes war dem Gott des siegreichen Volkes unterlegen. In dieser Sicht der Dinge war also der Gott Israels, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, dem Gott Babels unterlegen. Dieser Siegergott trug den Namen Marduk und viele fromme Geschichten rankten sich um ihn. Eine davon ging ungefähr so: Am Anfang, als es noch keine Menschen gab, ja als es noch nicht einmal Himmel und Erde gab, sondern nur eine Handvoll Götter, da wurden diese Götter bedroht von einem schrecklichen Ungeheuer namens Tiamat. Tiamat ist so etwas wie die Urgewalt des Meeres, das Chaos, die Urflut, ein wässriges, schleimiges Ungeheuer, das auf Tod und Vernichtung aus ist. Da tritt Marduk auf, ein junger Gott. Er stellt sich Tiamat entgegen und tötet sie im Zweikampf. Er hackt sie in der Mitte entzwei und macht aus einem Teil ihres Körpers die Erde und aus dem anderen die Himmelskuppel.

Dann formt Marduk aus dem Blut eines weiteren erschlagenen Gottes die Menschen, und die Aufgabe der Menschen ist es, den Göttern zu dienen.

Diese Geschichte also, aufgeschrieben unter dem Namen Enuma Elisch, fanden die Israeliten vor, sie gehörte zur babylonischen Staatsreligion, die sie, als die Unterlegenen und Besiegten, nun gefälligst auch anzunehmen hatten.

Und nun geschieht etwas völlig Unerwartetes, ja geradezu Ungeheuerliches. Dieses besiegte Volk weigert sich, die Religion der Herrschenden anzunehmen. Und sie formulieren ihre eigene Schöpfungsgeschichte. Nicht Marduk hat Himmel und Erde aus dem Körper des erschlagenen Ungeheuers geformt, sondern der Eine Gott, der vermeintlich unterlegene Gott Israels. Er hat Himmel und Erde geschaffen. Durch sein Wort. Darum geht es. Um ein politisch-religiöses Statement. Nicht Marduk ist der Herr des Himmels und der Erde, und nicht Nebukadnezar ist der oberste Bestimmer. Sondern Gott, der Gott Israels, der Gott des kleinen, besiegten, verschleppten, zum Frondienst gezwungenen Volkes. Ich finde dieses Selbstbewusstsein phänomenal, das sich nicht einmal durch die militärische Niederlage und die nationale Katastrophe unterkriegen lässt.

Bei der Schöpfungsgeschichte geht es also eigentlich darum, wer in der Welt das Sagen hat. Und darum, dass unsere Welt nicht aus Krieg und Kampf und einem geschlachteten Monster entstanden ist, sondern aus Liebe und aus einem vollmächtigen Wort. Und darum, dass der Sinn des menschlichen Lebens nicht darin besteht, den Göttern und ihren irdischen Stellvertretern zu dienen. Vielmehr sind wir Ebenbilder Gottes, nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen als Männer und Frauen, fähig zu Liebe und Kreativität.

Das würde ich als Erstes einem dieser überlegen lächelnden Atheisten erwidern. Dann würde ich aber noch weitergehen.

Natürlich, in einer Zeit, in der die Menschen sich die Erde als flache Scheibe vorstellten, über die sich die Himmelskuppel wie eine Käseglocke wölbt, da konnte man sich auch vorstellen, dass Gott wie ein kosmischer Bastler Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere und am Ende den Menschen geformt hat. Damals passte diese Vorstellung. Denn natürlich bauten die Menschen der damaligen Zeit ihre Geschichte auf dem damals gängigen Weltbild auf. Wie denn sonst!

Und nun machen wir einen großen Sprung, direkt hierher in die Gegenwart. Und unser Weltbild ist ein anderes. Wir gehen heute davon aus, dass das Universum unvorstellbar groß ist. Wikipedia gibt den Durchmesser des Universums mit 78 Milliarden Lichtjahren an. 78 Milliarden Lichtjahre. Und das Alter des Universums wird auf 13,8 Milliarden Jahre geschätzt. Angesichts dieser riesigen Zahlen erscheint das Bild von einem kosmischen Bastler
eher naiv. Wir müssen auch gar nicht an einen solchen Bastler glauben, wenn wir glauben, dass die Welt von Gott geschaffen wurde.

Wir können nämlich fragen: Was ist denn der Sinn dieser Aussage? Was meinen wir denn, wenn wir davon sprechen, dass Gott die Welt geschaffen hat?

Ich meine damit: Die Welt und damit mein Leben – und deins und deins und deins – ist nicht durch bloßen Zufall entstanden, sondern ist Ausdruck eines liebenden Willens. Damit sagen wir eigentlich genau dasselbe wie die alten Israeliten, nur mit heutigen Worten und Bildern: Wir sind nicht einfach in einen kalten, unpersönlichen Kosmos geworfen, sondern Kinder einer unendlichen Liebe.

Diese Liebe bezeichnen wir mit dem Namen Gott. Gott ist also kein alter Mann mit Bart auf der Wolke. Vielmehr ist Gott die Tiefe des Seins, das Geheimnis der Welt. Ursprung und Quelle von allem, was ist, die unendliche, unendlich schöpferische Kraft und Macht der Liebe, die fortwährend Neues gebiert, die in dir und in dir und in mir und allen Lebewesen und die den riesigen, endlosen Weiten des Universums den Atem gibt, und dir und dir und mir auch. Die Liebe, aus der wir geboren wurden, die uns trägt und in die wir wieder eingehen, wenn unsere Zeit auf der Erde abgelaufen ist.

Aus dieser Kraft, aus diesem guten, liebevollen Willen heraus ist die Welt entstanden. Und sie ist wahrhaft erstaunlich aufgebaut. Dass es dieses Universum überhaupt gibt, ist an sich höchst unwahrscheinlich. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass viele der physikalischen Fundamentalkräfte kein bisschen stärker oder schwächer sein dürften, als sie tatsächlich sind. Ein kleines Beispiel: Wäre das Verhältnis zwischen der Schwerkraft auf der einen Seite und der Expansionsgeschwindigkeit des Universums nach dem Urknall auf der anderen Seite nur um ein winzigstes bisschen anders, als es ist, wäre das Universum entweder gleich wieder in sich zusammengefallen – oder die Urmaterie hätte sich so rasch verdünnt, dass sich nicht einmal Atome hätten bilden können, geschweige denn unterschiedliche chemische Elemente, und damit Moleküle, und damit Leben. Dieses Verhältnis von Schwerkraft und Geschwindigkeit der Ausdehnung muss auf den Faktor von 1:1057 genau stimmen, sonst gäbe es dieses Universum nicht. Das entspricht, so habe ich es nachgelesen, „der Genauigkeit, die nötig ist, um einen Bleistift auf seiner Spitze so genau auszubalancieren, dass er auch nach zehn Milliarden Jahren immer noch auf seiner Spitze steht.“

Ist das nicht verrückt? Wir brauchen aber nicht bis zum Urknall zu gehen. Wir brauchen uns nur die Zusammensetzung der Atmosphäre unserer Erde anzuschauen. Das Kohlendioxid, um das sich in letzter Zeit alles dreht, macht einen Anteil von etwa einem halben Promille an der Atmosphäre aus. Und trotzdem bewirkt eine minimale Veränderung dieses minimalen Anteils den Klimawandel, den wir zurzeit mitbekommen. Nein: den wir verursacht haben und verursachen.

Die Erde, dieses Kind der kosmischen Liebe, die wir Gott nennen – die Erde und die Biosphäre, die sich darauf gebildet hat in der hauchdünnen Schicht dieser Atmosphäre, sie sind so unendlich schön und kostbar und fein abgestimmt und alles in ihr steht mit allem anderen in so inniger Verbindung, dass kleinste Abweichungen schon katastrophale Auswirkungen haben können. Wie bei einem höchst empfindlichen Mobile, wo man eins der Elemente nur leicht anhauchen muss, und schon gerät alles in Schwingung und Bewegung, die Elemente verändern ihren Ort und ihre Stellung zueinander, und nichts ist, wie es vorher war.

Wir Menschen sind zwar an sich auch nur ein winziger Teil dieser grandiosen Schöpfung, aber wir haben es geschafft, diese fatalen Abweichungen zu produzieren. Durch unser kurzsichtiges, egozentrisches Verhalten ist es uns in kürzester Zeit tatsächlich gelungen, das feinst austarierte Gleichgewicht des Lebens auszuhebeln und zu zerstören.

So gründlich ist uns das gelungen, dass es fast schon zynisch klingt, wenn wir das schöne Lied „Geh aus, mein Herz und suche Freud“ singen, mit schattenreichen Myrten, mit Glucken, Lerchen und Nachtigallen und Bienen.

Aber was können wir tun? Was können wir tun, um das Mobile wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Natürlich sollten und müssen wir das tun, was die Klimaforscher seit Jahren sagen und was jetzt seit ziemlich genau einem Jahr von den jungen Leuten freitags auf die Straße gebracht wird. Ich brauche das hier nicht aufzuzählen.

Aber ich denke, es geht noch um mehr. Es geht um unsere Haltung, unsere Einstellung zur Schöpfung.

Und da glaube ich als Erstes, es täte uns gut, wenn wir das Staunen wieder lernen würden, das Staunen über die unfassbare Vielfalt, Buntheit und Lebendigkeit der Natur um uns herum, von der wir ein Teil sind. Ein solches Staunen, ja eine Ehrfurcht, stellt sich am ehesten ein, wenn wir uns in der freien Natur bewegen. Wenn wir in einer sternklaren Nacht den Himmel betrachten – an einem Ort, an dem es kein künstliches Licht gibt. Wenn wir am Meer sind oder am frühen Morgen in einem tiefen Wald. Und aus dem Staunen kann die Dankbarkeit kommen, die Dankbarkeit für die Schönheit und Fülle, die uns umgibt.

Als zweites aber, so glaube ich, braucht es die Hoffnung, dass die unendliche Kreativität der göttlichen Liebe das Neue schaffen kann, das nötig ist. Denn es ist ja schier zum Verzweifeln, wie wenig sich wirklich tut und wie gewaltig wir unseren Lebensstil verändern müssen, um unseren Enkeln eine lebenswerte Erde zu hinterlassen. Bei allem, was wir selbst tun können und tun müssen – und was wir lassen können und lassen müssen –, ist das Wichtigste vielleicht doch die Hoffnung und das Vertrauen, dass die unendliche Liebe, die dieses Universum hervorgebracht hat, die unseren Planeten entstehen ließ und die uns das Leben geschenkt hat, dass diese unendliche Liebe, die Kreativität Gottes, neue Möglichkeiten schafft, die wir uns heute noch nicht einmal vorstellen können.

Wer hätte es heute vor einem Jahr gedacht, dass aus der stillen Aktion eines einzelnen Mädchens eine weltweite Bewegung würde, die auch von den Regierenden gehört wird.

Bei allem, was wir im Blick auf unseren eigenen Lebensstil tun und lassen können, können wir als Christen also vor allem eins: Wir können uns an die unendliche, unendlich kreative Macht der Liebe wenden, die wir Gott nennen. Gott hat immer noch unendliche Möglichkeiten. Das heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen. Mit Martin Luther würde ich sagen: Wir sollen beten, als ob alles Handeln nichts nützte, und handeln, als ob alles Baten nichts nützte.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne und seine ganze Schöpfung in Christus Jesus. Amen.

 

Tilmann Haberer

 

 

Was ist die Hölle?

Hölle zugeschnitten

Predigt am 31. März 2019

 

Was ist die Hölle?

Liebe Gemeinde, wenn es nach Dante Alighieri geht, ist die Hölle ein riesiger, trichterförmiger Krater, der bis zum Erdmittelpunkt reicht. Entstanden ist er, als Luzifer vom Himmel auf die Erde stürzte. Er, der einstmals Oberste der Engel, war von seiner Macht so besoffen, dass er sich an Gottes Stelle setzen wollte. Daraufhin wurde er gestürzt, und er schlug auf der Erde mit solcher unglaublicher Wucht auf, dass er sich bis zum Erdmittelpunkt rammte. Das dabei verdrängte Erdreich kam dann auf der anderen Hemisphäre der Erde wieder heraus und bildet den Berg der Läuterung, an dessen Spitze das Paradies liegt. So viel zur mittelalterlichen Höllengeografie.

Der Krater zieht sich in zehn Ringen oder Kreisen hinab. Der oberste Kreis ist noch die Vorhölle. Da sind die zu finden, die in ihrem Leben lau und unentschieden waren. Die Saft- und Kraftlosen, die nicht selbst gelebt haben, sondern sich haben leben lassen von anderen. Der erste Kreis der Hölle ist dann für die reserviert, die zwar anständige und auch weise Menschen waren, aber Christus nicht kannten, so dass sie nicht durch den Glauben an ihn erlöst werden konnten. Dazu gehören zum Beispiel die Kinder, die ungetauft gestorben sind, dazu gehören aber auch die antiken Dichter und Philosophen. Selbst wenn sie noch so edel und weise waren – sie haben keine Chance, ins Paradies eingelassen zu werden. Verzehren müssen sie sich In ewiger, vergeblicher Sehnsucht nach dem Heil und danach, in Gottes Gegenwart sein zu dürfen.

Und dann beginnt die eigentliche Hölle. Stufe für Stufe, Kreis für Kreis geht es weiter hinab ins Inferno, weiter hinab in die höllischen Phantasien des Autors. Für jede Sorte von Sündern gibt es eine eigene Abteilung, und alle werden mit ausgesuchten Qualen und Foltern gepeinigt, die jeweils zu ihrer Sünde passen. Nur drei Beispiele: Mörder und Räuber stecken in einem kochenden Strom von Blut und wenn sie versuchen zu entkommen, werden sie von Dämonen wieder zurückgetrieben. Gotteslästerer liegen ausgestreckt auf glühend heißem Sand und werden von Feuerflocken berieselt. Die Verräter dagegen stecken erstarrt fest im ewigen Eis.

Im untersten Kreis der Hölle steckt Luzifer selbst im eisigen Boden. Mit seinen drei Mäulern zermalmt und frisst er unaufhörlich die drei größten Verräter der Geschichte: Judas, der Jesus ausgeliefert hatte, sowie Brutus und Cassius, die beiden verräterischen Mörder Cäsars.

Die Bilder erinnern an die Gemälde von Hieronymus Bosch, Ausgeburten einer wahrhaft höllischen Phantasie, die entweder von Angst zeugt – Angst vor so schlimmen Strafen, die noch dazu ewig andauern. Oder sie ist getrieben von Hass und Schadenfreude: Seht ihr, so ergeht es denjenigen, die sich nicht anständig benehmen.

Im Mittelalter mag das vielleicht seine Berechtigung gehabt haben. Die Menschen lebten in einer Welt, die von Gewalt und Krieg geprägt war, von Mord und Totschlag, sie wurden heimgesucht von Feinden, ohne zu wissen weshalb, und es ist verständlich, dass sie auf einen gerechten Ausgleich ihres Leidens im Jenseits hofften.

Außerdem hatten sie keine Ahnung von den Abgründen des Unbewussten. Ich als heutiger Mensch tue mir schon schwer, so eindeutig zu unterscheiden zwischen Bösen und Guten, zwischen Sündern und Gerechten. Läuft die Grenze denn wirklich zwischen den Menschen – hier die Bösen, da die Guten? Du bist gut, du bist böse? Ich meine, die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft doch vielmehr mitten durch mich hindurch, durch jeden einzelnen Menschen. Wie kann ich sagen: Dieser Mensch ist eindeutig böse, und der dagegen ist ganz klar gut und gerecht!?

Ich will damit nicht sagen, dass es das Böse nicht gibt. Aber wo beginnt es und wo endet es? Wer kommt in die Hölle und wer in den Himmel? Was ist mit dem, der zu 49 Prozent gut ist und zu 51 Prozent böse – und umgekehrt: Was ist mit dem, der ein ganz klein wenig mehr Böses in sich hat als Gutes? Sie sehen, schon diese Überlegung ist absurd. Abgesehen davon, dass es nahezu unmöglich ist, genau zu unterscheiden, was nun wirklich gut ist und was echt böse, wissen wir heute doch auch einiges darüber, woraus böse Motive und Absichten und Handlungen entstehen. Welche unbearbeiteten Traumata beispielsweise einen Menschen zum Mörder machen können. Wer wollte entscheiden?

Gut, natürlich, es heißt: Gott entscheidet, und Gott kennt die Seele der Menschen bis in ihre tiefsten, geheimsten Regungen. Aber gerade wenn Gott uns so gut kennt – kann er einen Menschen wirklich verurteilen, kann er eines seiner Kinder, die er doch aus Liebe geschaffen hat, der ewigen Folter, der niemals endenden Peinigung überantworten? Was wäre das für eine Liebe?

Der Gott, den Dantes Vision voraussetzt, ist der unerbittlich gerechte Patriarch, der majestätische König, der Gesetze gegeben hat, die unbedingt einzuhalten sind – ansonsten drohen eben diese unendlichen Qualen. Ein strenger, männlicher Gott, ein Vater, dessen Gerechtigkeit weit größer ist als seine Barmherzigkeit und Liebe. An einen solchen Gott kann und will ich nicht glauben und einen solchen Gott kann und will ich nicht predigen. Natürlich, in der Bibel gibt es viele Worte und Bilder, die ebenfalls einen solchen Gott zeigen. Auch von Jesus sind Aussprüche überliefert wie: „Den aber werft hinaus in die äußerste Finsternis, da wird sein Heulen und Zähneklappern!“ Oder: „Da wirst du in die Hölle geworfen, wo dein Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.“ Auch Jesus scheint so gedacht und gesprochen zu haben, jedenfalls in manchen seiner Predigten. In anderen sagt er aber etwa: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Sollte Gott von uns verlangen, unsere Feinde zu lieben, um dann selbst seine eigenen Kinder so unerbittlich zu strafen?

Ich halte es hier mit Martin Luther, der sinngemäß gesagt hat: „Wenn ich ein biblisches Wort nicht verstehe und damit nicht leben kann, dann fliehe ich mich zu einem anderen biblischen Wort, das mir die Liebe und Gnade Gottes in Christus zusagt. Das tröstet mich.“

In der Tat, es ist eine Entscheidung, welchen der oft widersprüchlichen Worte der Bibel ich mein Vertrauen schenke. Den Gerichtsdrohungen oder den Bildern von der überschwänglichen Liebe und Großzügigkeit Gottes.

Und es ist eine Frage, wie ich mir Gott vorstelle. Ist Gott ein höchstes Wesen, das Gefühle hat, das Zorn und Rache kennt? Oder ist Gott die Tiefe des Seins, das Geheimnis der Welt, ist Gott die Quelle und Urkraft des Lebens und der Liebe? Wer schon einmal eine meiner Predigten gehört hat, wird wissen, dass ich zu diesem zweiten Bild neige. Der Gott, an den ich glaube, dieser Gott ist keiner, vor dem man Angst haben müsste. Er wird nicht „böse“, wenn man ihn nicht kennt oder wenn man ihn mit dem falschen Namen anruft. Er wird auch niemanden in die ewige Verdammnis schicken, weil es – und jetzt kommt’s: weil es eine ewige Verdammnis gar nicht gibt. Zwar kann ein Mensch sein Leben verfehlen, er kann an der Aufgabe scheitern, das in ihm angelegte Potenzial zur Entfaltung zu bringen, er kann an moralischen Ansprüchen oder selbst gesteckten Zielen scheitern. Das ja. Aber so wenig wie es irgendwo auf der Erde einen heißen Krater namens Hölle gibt, so wenig gibt es eine ewige Verdammnis, die einem ein Gott auferlegt, den wir durch unser Verhalten oder unseren Unglauben verärgert hätten. Gott ist Grund und Quelle des Lebens, Gott wird das Leben auch wieder zu sich nehmen, Gott wird uns bergen im Schoß des Lebens, aus dem wir gekommen sind, und uns nicht in irgendeine Finsternis hinausstoßen.

Und was ist mit den ganz schlimmen Menschen, die millionenfaches Leid und Millionen von Toten auf dem Gewissen haben? Was ist mit Hitler? Was ist mit Stalin und Mao und Pol Pot und wie sie alle heißen?

Diese Frage ist berechtigt. Aber ich frage mich dann gleich zurück: Wo ist die Grenze? Was unterscheidet einen, der Millionen Menschen ermordet hat, von dem, der einen einzigen Menschen ermordet hat? Für uns scheint die schiere Zahl das Verbrechen größer zu machen. Aber wird das Verbrechen denn wirklich geringer, wenn jemand „nur“ einen einzigen Menschen auf dem Gewissen hat? Und was ist mit dem, der andere durch psychische Gewalt quält? Und wo ist die Grenze zwischen dem, der in der Phantasie mordet, und dem, der es wirklich tut? Jesus sagt in der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer auch nur mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig, … und wer sagt: Du Idiot!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“ Wer hätte dann noch eine Chance?

So einfach ist das alles nicht, auch nicht mit den Tyrannen und Massenmördern. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, dass es im Himmel sehr gemütlich ist, wenn ich weiß, dass an einem anderen Ort Menschen wie ich in Ewigkeit gepeinigt werden. Das unterscheidet uns heutige vielleicht auch von den Menschen des Mittelalters. Thomas von Aquin, der berühmteste und wichtigste Theologe des Mittelalters, soll gesagt haben: Es erhöht den Genuss der Seligen noch, dass ihnen der freie Ausblick auf die Peinigung der Verdammten gewährt wird. Na, danke. Mir würde das himmlische Manna im Hals stecken bleiben, wenn ich unaufhörlich Schmerzensschreie hören müsste, sobald ich das Himmelsfenster aufmache.

Gibt es also keine Hölle?

Doch, es gibt die Hölle. Es gibt die Hölle, die wir uns bereiten, hier auf Erden. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre sagte: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Aber ich denke, nein, Monsieur, die Hölle, die machen wir schon selbst. Wir machen uns oft selbst das Leben zur Hölle, und wir sind Großmeister darin, anderen das Leben zur Hölle zu machen. Wir sind durch unseren Konsum und durch unsere Lebensweise mit dafür verantwortlich, dass Millionen Menschen in der Hölle leben – in einer Hölle aus Armut, Krankheit, Ausbeutung, Hunger und Krieg, ohne Bildung, ohne Perspektiven. Wir sind dafür verantwortlich durch unseren Lebensstil und unseren Konsum, wenn diese Erde zu einer Gluthölle wird, weil das Klima kippt und die Temperaturen auf unerträgliche Werte steigen. Und auch im kleinen Maßstab schaffen wir uns die Hölle selbst, uns und anderen. Es gibt die wohlbekannte Ehehölle, es gibt die Hölle einer lieblosen und von Gewalt geprägten Kindheit. Es gibt die Hölle aus Minderwertigkeitsgefühl und Versagensangst und Lebensangst, in die wir uns selbst immer wieder werfen. Es gibt so vielfältige Höllen schon in diesem Leben, dass es keine Hölle nach dem Tod mehr braucht. Das ist meine tiefste Überzeugung. Und es ist mein tiefstes Vertrauen, dass Gott uns nicht in die Hölle schickt, sondern dass es sein einziges Anliegen ist, uns aus der Hölle zu befreien.

Jeden Sonntag sprechen wir im Glaubensbekenntnis aus, dass Jesus hinabgestiegen sei ins Reich des Todes. Früher, in meiner Kindheit, hieß es noch: Niedergefahren zur Hölle. Wenn ich mich auf diesen Mythos einlasse, frage ich mich: Was wird Christus dort gemacht haben? Er hat dieses Reich durchquert und ist am anderen Ende wieder herausgekommen, am dritten Tag. Wird er die Menschen dort in ihren Qualen gelassen haben? Oder wird er sie nicht vielmehr alle befreit und mitgenommen haben? Werden sie ihn nicht spätestens dort, im Reich des Todes, erkannt haben? Werden sie sich nicht spätestens dort geöffnet haben für seine Liebe? Und wird Jesus Christus, der von Liebe und Barmherzigkeit und Mitgefühl gepredigt hat, ungerührt an den gequälten und gepeinigten Menschen vorbeigegangen sein und gesagt haben: Selber schuld!?

Nein und nochmals nein. Ich glaube fest daran, dass nach dem Tod keine Hölle auf uns wartet, für niemanden, und wenn es eine Hölle gibt, dann ist sie leer. Denn Gottes Liebe und Barmherzigkeit, sein Mitgefühl und Verständnis sind größer als alles, was wir Menschen uns vorstellen können. Er wird alles Böse wegschmelzen von denen, die Böses getan haben, und er wird die Wunden aller Opfer heilen. Er wird den Frieden schenken, den die Welt nicht geben kann. Ist das nicht eine wunderbare Aussicht?

Ein letzter Gedanke, ein Einwand: Braucht es nicht die Angst vor Strafe, um Menschen vom Bösen abzuhalten? Nein, dieser Mechanismus funktioniert nicht. Nirgends gibt es so viele Gewaltverbrechen wie in Gesellschaften, die die Todesstrafe kennen. Wir werden nicht durch die Angst vor Strafe zum Guten gebracht, sondern nur durch die Liebe. Und damit durch Gott, der die Liebe ist. Nicht Angst macht uns zu besseren Menschen, sondern Vertrauen.

Das lasst uns üben. Vertrauen, Liebe, Zuwendung. Um die Höllenfeuer dieses Lebens auszulöschen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, der Hölle, Tod und Teufel über­wunden hat durch seine Liebe.

Amen.

 

 

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