Gottesdienst in St. Markus, München, am 10. Januar 2021
Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.
Liebe Gemeinde,
was ist Gottesdienst? Was für eine Frage! Das ist doch klar, vorhin habe ich es ausdrücklich formuliert: „Wir hören Worte aus der Bibel, wir singen und beten und teilen gemeinsam die große Hoffnung.“ Und in Zeiten, in denen das möglich ist, kommt noch dazu: „…und wir teilen miteinander das Mahl der Versöhnung.“
Also, Gottesdienst, das ist die Versammlung einer gewissen Schar von Christen, von Glaubenden oder Suchenden, meistens am Sonntag, meistens am Vormittag, eine Stunde oder anderthalb. Musik, Lesungen, Gebete, Lieder, eine Predigt, eine Abendmahlsfeier.
Auch Martin Luther sagt es ähnlich. Im Gottesdienst geschehe nichts anderes, „denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“
Soweit alles klar.
Und gleichzeitig spricht Paulus in dem Abschnitt aus dem Römerbrief, den ich eben gelesen habe, noch von etwas ganz anderem: „Ich ermahne euch nun … dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“
In der Neuen Genfer Übersetzung, die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde, hört sich das folgendermaßen an: „… dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf.“
Dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt.
Das ist starker Tobak. Mit dem ganzen Leben. Auf der anderen Seite: Welche Teile unseres Lebens würden wir Gott denn nicht so gern zur Verfügung stellen?
Der katholische Theologe Fridolin Stier berichtet von einem Traum, in dem Gott zu ihm in seine Studierstube kommt. Stier ist – im Traum – höchst erschrocken und fragt: „Was willst du?“ Die Antwort besteht aus einem einzigen Wort. „Dich!“
Mich will Gott, und dich und dich. Ganz. Mit Haut und Haar. Mein ganzes Leben und dein ganzes Leben.
Gruselt es dich da ein bisschen bei diesen Worten? Dann kann es sein, dass dir ein falsches Bild von Gott nahegebracht wurde.
Ich leihe mir ein Bild von Jesus, eins, das er oft und gern gebraucht hat: das von Braut und Bräutigam. Wünscht sich die Braut nicht, vom Bräutigam gewollt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar? Sehnt sich der Bräutigam nicht danach, von seiner Braut begehrt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar?
Von Martin Luther stammt auch dieses Bild: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“ Und diese Liebe, diese glühende, verzehrende Liebe, die will uns ergreifen.
Und seltsam, vielen wird bei dieser Vorstellung ein bisschen mulmig: dass die glühende, verzehrende Liebe mich ergreifen will, mich durchstrahlen, mich ausglühen, mich in Flammen setzen.
Wer bin ich denn? So mag sich manche und mancher fragen. Wer bin ich denn, dass ich so eine große Liebe verdient hätte?
Nun, verdient hast du die Liebe Gottes ebenso wenig oder ebenso viel wie ein Kind die Liebe seiner Eltern verdient. So ein Neugeborenes macht ja nichts als Arbeit – es weckt die Eltern zu nachtschlafender zeit, es schreit, es will gefüttert, gewickelt, gewiegt und angesprochen werden. Es kann gar nichts machen – außer in die -windeln, und das bedeutet wieder Arbeit für die Eltern. Und trotzdem – wenn alles gut verläuft – lieben die Eltern ihr Kind wie verrückt. Einfach, weil es da ist und weil es ihr Kind ist.
So ist es mit Gott und uns. Gott liebt uns mit einer unbegreiflichen, glühenden Liebe, einfach, weil wir da sind. Weil wir Gottes Kinder sind.
Unser ganzes Leben Gott zur Verfügung stellen, das heißt als Allererstes, dass wir uns Gottes Liebe gefallen lassen. Dass wir es uns sagen lassen: Dein Leben ist unendlich sinnvoll, du bist unendlich geliebt, in allem, auch im Schwersten, umhüllt dich Gottes Liebe. Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht. Auch wenn in deinem Leben vieles daneben geht. Auch wenn du an Covid erkrankst. Auch wenn dir liebe Menschen genommen werden, wenn du den Job verlierst, wenn du einsam bist: In all dem bist du dennoch geliebt, und nie, nie bist du allein. Denn Gott sitzt nicht selig irgendwo weit weg im Himmel. Gott ist dir immer nahe, näher als du dir selbst bist. Mag sein, dass du davon nichts spürst. Mag sein, dass du dich fragst: Wo ist er denn, Gott? Warum greift er nicht ein? Lass dir sagen: Gott ist bei dir, in dir, um dich, und mit dir gemeinsam trägt Gott die Lasten, die du zu tragen hast.
Es mag Zeiten geben, da spürst du die große Liebe Gottes, oder du hast eine Ahnung davon. Dein Leben erscheint dir in einem anderen Licht. Im Licht dieses glühenden Backofens.
Und vielleicht ist es gerade dieses Licht, das dich zurückschrecken lässt. Ich soll mich, mein ganzes Leben, Gott zur Verfügung stellen? Mit anderen Worten: Ich soll mein ganzes Leben der Liebe zur Verfügung stellen?
Da wird mir bewusst, wie viel in meinem Leben ist, was mir selbst gar nicht liebenswert vorkommt. Wie soll das denn gehen? Es gibt so vieles in mir und an mir, das ich selbst nicht leiden kann. Was ich lieber verstecke, vor den anderen und am liebsten vor mir selbst.
Ich glaube, das ist das größte Hindernis für die Liebe: die Scham und die Angst, die aus der Scham folgt. Die Scham sagt: ich bin es doch gar nicht wert. Ich bin schwach, oft bin ich gemein zu meinen Mitmenschen, ich bin egoistisch, zwiespältig, unzuverlässig.
Und Gott sagt: Egal. Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Das, was Jesus bei seiner Taufe gehört hat, das gilt für uns alle: Du und du und du bist Gottes geliebtes Kind.
Deswegen gibt es nichts, was wir vor Gott verstecken müssten. Es gibt nichts, das Gott nicht versteht, was Gott nicht annimmt. Es gibt nichts, was Gott nicht gebrauchen kann.
Dietrich Bonhoeffer, Theologe und Widerstandskämpfer im Dritten Reich, hat geschrieben:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will“, und: „Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
Nur deswegen können wir dem Rat des Paulus folgen und daran gehen, unser ganzes Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Das geht nicht auf einen Schlag, bei niemandem. Es ist ein lebenslanger Lernprozess. Ein Prozess, in dem wir nach und nach, wenn es gut geht, all unsere vermeintlich guten und all unsere vermeintlich miesen Seiten dem Licht der Liebe Gottes aussetzen können. Und das ist unser wahrer Gottesdienst: dass wir uns lieben lassen mit Haut und Haar, mit unseren Schatten und Flecken ebenso wie mit allem, was gut und wahr und schön ist an uns.
Und so kann das mit der Liebe weitergehen.
„Stellt euch nicht dieser Welt gleich“, sagt Paulus. Dieser Welt, in der nur das Strahlende, das Schöne, das vermeintlich Starke zählt. „Erneuert euren Sinn“, schreibt Paulus, „auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ Und das ist nicht das, was uns wohlgefällt, nicht das, was uns gut und vollkommen erscheint. Sondern das, was Gott als gut und vollkommen erklärt. Was Gott, der glühend Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel, als gut und vollkommen erklärt.
Du magst dir selbst schlecht und unvollkommen vorkommen. Das ist Gott egal. Gott sieht deine Möglichkeiten, nicht nur deine Wirklichkeit. Das ist der Sinn des Satzes, den Jesus so oft gesagt hat: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Nicht was dir misslungen ist, soll dein Leben bestimmen. Sondern das, was in dir angelegt ist. Deswegen kannst du jeden Tag neu anfangen, und das sei dein vernünftiger Gottesdienst.
Noch zwei Gedanken zum Schluss. Erstens: Wenn Gott dich und mich in all unserer Zwiespältigkeit so sehr liebt, dann ist die Folge, dass auch wir versuchen dürfen, unsere Mitmenschen mit Gottes Augen zu sehen. Dann sehen wir in ihnen nicht das Schwache und Gemeine, sondern die strahlende Schönheit der Kinder Gottes. Das geht auch nicht von heute auf morgen, auch das ist ein lebenslanger Lernprozess. Gerade die, die so anders sind als wir, sind notwendig, damit der Leib vollständig ist. Das Auge ist kein Fuß und der Zeigefinger ist nicht der Magen – aber alle sind notwendig, gerade in ihrer Verschiedenheit. Diversität ist ein Stichwort, das dieser Tage groß geschrieben wird. Hier, bei Paulus, haben wir es schon.
Und das zweite: Wenn unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, wozu dient dann diese Veranstaltung hier am Sonntagvormittag in der Kirche (oder auch am Dienstagabend, wie der Musikgottesdienst)? Ich denke, sie hat einen zweifachen Sinn. Zum einen ist sie das Familientreffen der Kinder Gottes. Hier treffen wir uns und vergewissern uns, dass wir zusammengehören, in unserer ganzen Diversität. Und zum anderen ist dieser Gottesdienst der Ort, an dem wir uns das immer wieder sagen lassen können, jede Woche wieder: Dass Gott uns liebt, dass unser Leben nicht vergebens ist, dass Gott an unserer Seite ist, um uns herum und in unserem Herzen. Weil wir vergesslich sind, brauchen wir diese Zusage immer wieder.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, unserem großen und liebenden Bruder. Amen.