Was ist Gott?

Diese Predigt ist inspiriert von einem Vortrag von Marcus J. Borg, „What is God?“ Borg bringt in diesem kurzen Vortrag vieles auf den Punkt, was ich seit langem denke und worüber ich seit langem rede und predige. Am 5. August 2018 habe ich mein gegenwärtiges Bild von Gott in eine Themenpredigt gefasst.

Pferdekopfnebel

 

Was ist Gott?

Liebe Gemeinde, das scheint ja eine eher unpassende Frage zu sein – in einem Gottesdienst! Sollte nicht sonnenklar sein, wen oder was wir hier feiern, wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen?

Meine erste Antwort: Schön wär’s! Schön wär’s, wenn wir alle, die hier heute anwesend sind, auf Anhieb erklären könnten, was sie meinen, wenn sie das Wort „Gott“ aussprechen.

Aber auch wenn das so sein sollte. Selbst wenn wir alle eine schlüssige Antwort parat hätten auf die Frage: „Was ist Gott?“ – selbst dann ist es kein Schaden, sich einmal in Ruhe dieser Frage zu stellen. Denn wir Menschen verändern uns, wir entwickeln uns, und auch unser Glaube darf und soll sich entwickeln. Damit er zu unserem Leben passt.

Ich selbst kann von mir sagen, dass sich mein Glaube mehrmals in meinem Leben grundlegend gewandelt hat. Und das in doppelter Hinsicht: Gewandelt hat sich das „Wie“ meines Glaubens wie auch das, woran ich glaube. Und gleichzeitig – das ist das Geheimnisvolle – ist dieses „Was“, woran ich glaube, immer sich selbst ähnlich geblieben, so wie ich mir selbst ähnlich geblieben bin in all den Entwicklungen und Veränderungen.

 

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Ich glaube, es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Frage „Was ist Gott“ zu beantworten.

Die erste Möglichkeit: Gott ist ein Wesen. Das höchste Wesen, sicher, aber Gott ist ein Wesen. Er – halt! Da wird es schon kompliziert! Dieses höchste Wesen hat sicher kein Geschlecht wie wir Menschen ein Geschlecht haben. Gott ist kein Mann und keine Frau. Trotzdem ist das Wort „Gott“ grammatikalisch männlich und in der Vorstellung der allermeisten Menschen ist Gott sicher männlich. Selbst wenn wir in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch weibliche Bilder für Gott entwickelt und wiederentdeckt haben – Gott ist für die meisten Menschen ein Mann.

Auch wenn die meisten hier Anwesenden sich Gott wohl nicht als alten Mann mit langem Bart vorstellen, wie er in meiner Kindheit im Gottbüchlein dargestellt war oder wie er auf den Bildern von Schnorr von Carolsfeld zu sehen ist und auf vielen Fresken, nicht zuletzt in der Sixtinischen Kapelle – Sie kennen sicher das Bild von der Erschaffung Adams, Gott als mächtiger, älterer Mann, umgeben von Putten und Engeln, im Arm die Weisheit als junge Frau, und er streckt seinen Zeigefinger Adam entgegen, der sich gerade aus der Erde erhebt.

So gut ich weiß, dass Gott ganz sicher nicht so aussieht, im Unbewussten regt sich unwillkürlich ein solches Bild, wenn ich das Wort Gott höre. Diese Bilder sind so stark und so tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert, dass etwa der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle einmal gesagt hat, dass er ganz auf das Wort Gott verzichtet und stattdessen Ausdrücke verwendet wie „das Sein selbst“ oder „das Leben“ – und ich kann es ihm nicht verdenken.

Das Problem dabei, wenn wir uns Gott als Wesen vorstellen, ist dies: Ein Wesen, und wenn es auch das höchste Wesen ist, ist immer irgendwie begrenzt, denn es unterscheidet sich von anderen Wesen. Es steht mit dieser Welt zwar in Beziehung, aber es unterscheidet sich doch von dieser Welt. Es ist irgendwie „dort“, in einem wie auch immer gearteten Jenseits. Auch wenn das höchste Wesen Gott mit dieser Welt zu tun hat und in ihr gegenwärtig ist, ist seine „Heimat“ eigentlich doch anderswo. Das meinen wir, wenn wir vom „Himmel“ sprechen. Natürlich wissen wir, dass Gott nicht „da oben“ ist, auf einer Wolke. Aber so ganz hier in dieser Welt geht er auch nicht auf.

Nächster Punkt: Wenn wir uns Gott als höchstes Wesen vorstellen, dann stellen wir ihn uns auch vor wie eine Person: Mit Eigenschaften, die dieses Wesen, diese Person, von anderen Wesen und von anderen Personen unterscheiden. Das sind natürlich sehr einmalige Eigenschaften: Wir stellen uns Gott als allmächtig vor, als allwissend, als allgegenwärtig. Und doch in irgendeiner Weise begrenzt.

Ein Beispiel. Wenn wir sagen: Gott ist gut – was ist dann mit dem Bösen? Wenn wir sagen: Gott ist unsterblich – was ist dann mit dem Tod? Wenn wir sagen: Gott ist liebevoll – hat diese Liebe dann Grenzen? Wenn wir sagen: Gott ist gerecht – beißt sich das nicht mit der Aussage, dass Gott barmherzig ist? Hebt die Barmherzigkeit nicht die Gerechtigkeit auf, oder kommt sie ihr nicht zumindest immer mal wieder dazwischen?

Und schließlich: Dieser Gott, den wir uns als Wesen vorstellen, der greift von Zeit zu Zeit in den Lauf der Welt ein. Er hat Wunder getan, jedenfalls in den biblischen Zeiten, und er erhört Gebete: Er rettet Menschen, er heilt Menschen, er ändert den Lauf der Ereignisse – jedenfalls manchmal. Warum er manchmal eingreift und manchmal anscheinend nicht – ja, das ist sein Geheimnis.

All das schwingt mit, wenn wir uns Gott als Wesen vorstellen – als „jenes höhere Wesen, das wir verehren“, um mit Dr. Murke zu sprechen. Darauf können sich ja viele noch einlassen: Irgendein höheres Wesen muss es ja doch irgendwie geben…

Diese Vorstellung, Gott sei ein höheres oder auch das höchste Wesen, ist in unserer Kultur weit verbreitet und auch in unserer Kirche – und natürlich findet sich diese Vorstellung auch allenthalben in den heiligen Schriften, natürlich auch in der Bibel.

 

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Aber auch in der Bibel gibt es durchaus andere Vorstellungen und Bilder von Gott. „Gott ist Geist“ heißt es zum Beispiel im Johannesevangelium. Und: „Gott ist die Liebe“ im 1. Johannesbrief. Damit sind wir bei der zweiten grundlegenden Möglichkeit, von Gott zu sprechen. Gott ist dann so etwas wie die allumfassende Wirklichkeit, das Sein selbst, der Geist, der alles durchdringt und allem zugrunde liegt. Gott ist die Tiefe in und hinter allem, Gott ist das Geheimnis der Welt. Gott ist du Summe all dessen, was ist, und Gott ist die Summe aller Möglichkeiten, also die Summe all dessen, was noch werden kann. Gott ist das Große Ganze, so sage ich selbst gern. Oder: Gott ist das Ein und Alles.

Oder, wie wir vorhin in der Lesung aus der Apostelgeschichte gehört haben: Gott ist keinem von uns fern, denn in ihm leben, weben und sind wir. Dieser Gott ist der Welt nicht gegenüber. Er ist nicht irgendwo in irgendeinem Jenseits. Dieser Gott ist hier. Mitten unter uns. Inwendig in uns. Er durchströmt und belebt uns. Sie gebiert uns jeden Augenblick neu. Sie ist die Energie und Kraft, die alles in jedem Augenblick im Dasein hält.

Dieser Gott ist immer bei uns, in uns, unter uns. Dieser Gott ist das eigentliche Leben in uns. Alles, was uns bewegt, was uns lebendig macht, was sich in uns in Liebe bewegt.

Wenn wir uns Gott auf diese Weise vorstellen, dann hat das eine Reihe von Konsequenzen.

Zum Beispiel: Diesen Gott brauchen wir nicht zu fürchten. Dieser Gott wird uns niemals strafen. Er ist ja in uns, er kennt all unsere Motive, er weiß, weshalb wir oft egozentrisch sind und böse. Er weiß, welches Leid und welche Ängste und welche Entbehrungen unserer Egozentrik und unserer Bosheit zugrunde liegen. Und er versteht uns durch und durch, viel besser, als wir uns jemals selbst verstehen werden.

Jetzt höre ich schon den Einwand: Ja, wenn Gott nicht straft, wenn wir uns nicht fürchten müssen, dass wir für unser Fehlverhalten bestraft werden – dann können wir doch alles machen, was wir wollen. Dann geht es in der Welt doch drunter und drüber, jeder verfolgt nur seine eigenen egoistischen Interessen und denkt nicht mehr ans Gemeinwohl. Aber im Ernst: Ist es wirklich ethisch hochstehend, wenn wir uns nur aus Angst vor Strafe an bestimmte Vorschriften halten? Jesus jedenfalls lädt uns ein, aus Liebe zu handeln und nicht aus Furcht vor Strafe. Aus innerer Überzeugung, weil wir es als richtig erkannt haben.

Aber das ist nur ein Aspekt, es gibt noch andere Konsequenzen, wenn wir uns Gott nicht als Wesen vorstellen, sondern als das Geheimnis und die Tiefe der Welt. Vielleicht die schärfste Konsequenz ist die: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Gott in unser Leben eingreift wie von außen. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Gott die Naturgesetze aufhebt, die er selbst geschaffen hat, um unsere Bitten zu erfüllen. Diesen Gott können wir nicht mehr anklagen wegen des Leids in der Welt und wegen des Bösen, das wir und viele andere Menschen erleben. Denn dieser Gott lenkt nicht die Schicksale, wie ein Marionettenspieler seine Puppen lenkt. Dieser Gott lebt in und mit uns, und dieser Gott leidet in und mit uns, und dieser Gott ist immer an unserer Seite, in unserem Herzen, in unserer innersten Seelentiefe.

Da höre ich wieder einen Einwand. Wie kann ich dann noch beten, wenn Gott doch nichts für mich tut?

Dazu fällt mir zweierlei ein. Erstens: Natürlich kann ich dann noch beten. Ich kann auch, zum Beispiel, um Schutz und Unterstützung für meine Lieben beten. Oder um Weisheit für die Politiker. Denn das ist einfach ein Ausdruck dessen, dass mir das Wohlergehen meiner Lieben am Herzen liegt und das Wohlergehen der Menschheit. Ich äußere meine Sorge oder meine liebenden Gedanken – und wer weiß, auf welchen Wegen dann manche dieser Wünsche doch eine Erfüllung finden.

Das zweite, was ich zu dem Einwand sagen möchte, den ich gerade formuliert habe – wie kann ich noch beten, wenn Gott doch nichts für mich tut? – das zweite ist dies: Natürlich kann ich das Gespräch mit Gott suchen und pflegen. Aber dieses Gespräch besteht dann nicht mehr aus „Mach doch dies, tu doch jenes…“ Wenn ich eine Liebesbeziehung zu Gott suche und Pflege, dann werde ich mit ihm reden wie mit einem geliebten Menschen. Zu meiner Frau sage ich ja auch nicht andauernd nur: Tu dies, mach jenes für mich. Ich erzähle ihr, was ich erlebt habe, ich frage sie um Rat und versuche dann auch, darauf zu hören, was sie mir sagt. Und schließlich sage ich ihr, so oft es geht, dass ich sie liebe. Und ich höre ihr zu. So sieht für mich ein Gespräch zwischen Liebenden aus.

Mit Gott kann ich nicht ganz so direkt reden wie mit meiner Frau, jeden falls höre ich seine Antworten nicht akustisch im Ohr. Aber ich kann Gott von meinem Leben erzählen, ich kann Gott mein Leid klagen, ich kann Gott sagen, wie sehr ich mich über dies oder jenes freue. Ich kann Gott sagen, dass ich ihn liebe, ich kann ihn einfach beständig beim Namen nennen: Du, du, du… oder: Christus – Jesus. Und schließlich: Ich kann lauschen, in der Stile lauschen auf das, was Gott mir in der Stille mitteilen mag. Wie gesagt, das höre ich nicht akustisch über die Ohren. Ich kann es, wenn ich still genug bin, im Herzen hören. Dazu muss mein Herz sich einschwingen und einstimmen auf Gott, der in der Tiefe meines Herzens wohnt.

Denn das ist das innerste Wesen der Gottesliebe: Wir werden dessen inne, dass wir in Gott leben, weben und sind, wie Paulus es gesagt hat, und umgekehrt: Gott lebt in uns, webt in uns und ist in uns. Und noch mehr: In unserer innersten Seelentiefe sind wir selbst dieser Gott. Du und du und du und ich. Gott ist unser innerstes, tiefstes Wesen. Am Grunde unserer Existenz sind wir eins mit Gott. Dazu in drei Wochen mehr, denn am 26 August soll es um die Frage gehen: Was ist der Mensch?

Aber noch einmal, und damit komme ich zum Schluss: Gott ist unser innerstes, tiefstes Wesen – das bedeutet schließlich, dass es nichts Heiliges mehr gibt. Oder besser: Alles ist heilig. Alles ist Gottes voll. Es gibt keinen Unterscheidung mehr zwischen heilig und profan, zwischen himmlisch und weltlich. Gott in allen Dingen suchen und finden – das ist der Wahlspruch der Jesuiten, die eine große mystische und kontemplative Tradition pflegen. In allen Dingen. Das ist das Ziel eines Christenlebens: Gott in allen Dingen suchen und finden – und lieben.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, dem großen Liebenden, der uns begegnen will in allen Dingen, du in unserem Herzen. Amen.

 

Autor: tilmannhaberer

geboren 1955, Krisen- und Lebensberater, evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger, systemischer Berater, zwischendurch mal sieben Jahre als freiberuflicher Schlussredakteur und Übersetzer (u.a. Richard Rohr, Suzanne Zuercher, Ken Wilber) unterwegs gewesen, Autor von Sachbüchern (u.a. "Gott 9.0") und Romanen.

4 Kommentare zu „Was ist Gott?“

  1. Das Beten als ein Gespräch mit Gott gibt mir einen neuen Einstieg zum Beten. Ich bin mir dann auch bewust, dass tief in meinem Innern eine Kraft ist, die mich antreibt und anspricht und auf die ich hören und der ich antworten kann.

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