Vor vielen Jahren habe ich eine Zusammenfassung geschrieben, weshalb und auf welche Weise ich an Jesus Christus glaube. Diese Zusammenfassung war zugleich die Grundlage für mein weiteres theologisches Nachdenken: Sie war die erste Formulierung meiner Gedanken über Trinität und Zwei-Naturen-Lehre, die ich dann, mehr als drei Jahrzehnte später, in „Von der Anmut der Welt“ ausformuliert habe.
Mein Jesus – gäbe es dich nicht, wüsste ich nicht von dir, müsste ich allen Glauben hinschmeißen und ein fröhlicher Atheist werden. Denn einen Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, ohne dich, den Gekreuzigten und Auferstandenen, den könnte ich nicht fürchten und ehren, geschweige denn lieben. Doch, fürchten wohl. Ich würde aber eher Gott fluchen und ein von Skrupeln unbeschwertes Leben führen, als mich von der Furcht vor einem solchen unberechenbaren, tyrannischen und grausamen Despoten bestimmen zu lassen.
Zum ersten Mal ist er mir in Israel begegnet, so richtig bewusst. In dem Land, in dem du gelebt hast, ja: Kann das ein Zufall sein? Ich las während der ganzen Fahrt, eine Woche über, die Geschichte deines Landes, oder besser: der Menschen, die in deinem Land gelebt haben, die aus dem Volk stammen, das um deinetwillen Volk wurde. Und wie in jedem Jahrhundert Ströme von Blut quellen aus dem geschundenen Leib dieses Volkes. Und wie immer und immer und immer wieder Menschen über andere Menschen herfallen, sie schlagen und schlachten und schänden und foltern und verstümmeln und ihre Kinder vor ihren Augen töten. Wie Wellen von unaussprechlichem Leid über das Land dahinfluten wie Ebbe und Flut, wie Unglück und Tränen und Geschrei entstehen und vergehen, ungehört und ungestillt. Und was von diesem Volk zu sagen ist, gilt ja für alle Völker. Und da sollte ein Gott sein, „der alles geschaffen hat und alles in seiner Hand hält und der hinter allem steht, was ist“? Ein Gott, „die alles bestimmende Wirklichkeit“?, ein Gott, „der Herr der Geschichte“?
Nein!
Dieser Gott wäre ein Schlächter und Folterer, der Kinder umbringt und Schwangere aufschlitzt bei lebendigem Leib. Komme mir keiner mit der Ausrede, Gott sei eben für das Gute in der Welt zuständig, und der Mensch für das Schlechte und Böse. Denn dagegen würde ich fragen: Wie kommt es bloß, dass der allmächtige Gott für das bisschen Gute in der Welt verantwortlich ist – Sonnenuntergänge und Mozarts Musik und ein bisschen vergängliches Mutterglück –, und für den Rest der nichtswürdige Wurm, der Mensch? Warum hat sich denn der allmächtige Gott derart das Ruder aus der Hand nehmen lassen? Und dann würde ich auch meine Würde als Mensch hoch-halten: Wieso sollte, wenn ich mich zu etwas Gutem überwinde, nun plötzlich Gott dazwischengefunkt haben – und immer wenn ich egoistisch, hartherzig oder gemein bin, bin’s ich selbst gewesen? Und was ist mit Erdbeben und Dürre, Pest und Cholera? Nein, da verstehe ich jeden, der sagt: Von so einem Gott will ich nichts wissen. Entweder er kann die Welt nicht zum Guten wenden, dann ist er nicht allmächtig, sondern ein Schwächling, der keiner Verehrung würdig ist. Oder er will die Welt nicht zum Guten wenden. Dann ist er ein Sadist. Wieder: Komme mir keiner mit der Aussage, Gott wolle eben die Freiheit der Menschen, und deshalb lasse er sie ins Unglück rennen. Der Vater, der zusieht, wie sein Kind in die Steckdose langt, und der nicht eingreift, der Freiheit des Kindes wegen, der ist ein Schwachkopf und ein Mörder, kein liebender Vater.
Weg mit diesem Gott!
Wenn es dich nicht gäbe, mein Jesus, und wenn ich von dir nichts wüsste, dann müsste ich Gott fluchen und meiner Wege gehen.
Ich bin froh, dass ich dich kennen gelernt habe, mein Jesus. Denn ohne dich wäre ich Gott losgeworden, gottlos und verzweifelt.
Aber du bist mir begegnet, in vielen kleinen Ereignissen, in der Bibel, im Studium, wenn ich mit einem Predigttext zu ringen hatte – mit der Zeit habe ich dich immer deutlicher erkannt: an deinen Wunden, wie Thomas. Und mit der Zeit wurde die Erkenntnis unausweichlich: Du bist unter uns. Überall, wo Menschen leiden, wo sie geschlagen und gefoltert werden, wo Menschen hungern, krank sind, übervorteilt und niedergedrückt werden: Überall da bist du. Du bist ein Mensch, nein: der Mensch. Vere homo, wahrer Mensch. Früher hieß das für mich nur: Mensch geworden mit Fleisch und Blut, kein ätherisches Geistwesen – ein echter Mensch. Später hieß es auch noch: Der wahre, der ideale Mensch. So, wie Gott sich das eigentlich gedacht hatte am sechsten Tag. Der neue Adam, der Gottes Absicht mit den Menschen verwirklicht.
Inzwischen heißt das für mich auch: Der Mensch schlechthin, und zwar der leidende Mensch. Ist es Zufall, dass von deinem Leben zwischen Krippe und Kreuz, zwischen Stall und Galgen nur ein einziges Wort im Glaubensbekenntnis steht: „gelitten“? Du bist der Mensch, überall da, wo ein Mensch leidet. Am eindrücklichsten in der Geschichte von Elie Wiesel: Ein kleiner jüdischer Junge wird in Auschwitz gehenkt, kämpft eine halbe Stunde mit dem Tod. „Wo ist Gott?“ fragt einer der Häftlinge, die zuschauen müssen. „Dort, am Galgen“, ist die Antwort. Da ist Gott. Der Mittler zwischen Gott und seinem Hiob, der Hiobs Leiden auf sich selber nimmt.
Hier geht das Neue Testament über das Alte hinaus. Im Buch Hiob kommt das Alte Testament an seine Grenze. In diesem Buch ist die letzte Antwort auf Hiobs verzweifelte, fordernde Fragen und Anklagen ein pompöser Machtbeweis Gottes: Wo warst du, als ich die Erde gegründet habe? Halt also die Klappe, du Wurm! Und Hiob murmelt, nicht überzeugt: „Okay, ich seh’s ein. Es ist besser, ich sage nichts mehr. Du bist stärker.“
Diese Antwort hält mein Jesus nicht aus. Er springt auf von seinem Stuhl zur Rechten des Vaters und macht sich auf, setzt sich zu Hiob in den Dreck, kriegt seine Geschwüre und seine seelischen Wunden und lässt sich vom Vater schlagen.
Seit jenem Tag sühnt er. Er sühnt die Wunden, die Menschen einander schlagen. Und er sühnt – auch wenn das nach Ketzerei klingt – er sühnt die Wunden, die Gott den Menschen schlug.
Denn Gott hat alles geschaffen, das Licht und die Finsternis, den Tag und die Nacht, die Liebe und die Grausamkeit. Warum er seine Schöpfung so unvollkommen gemacht hat, das kann kein Mensch sagen.
Aber das schlechthin Unglaubliche ist: Gott macht sich auf, um zu lernen. Er lernt, was die Menschen aushalten müssen. Er wird selbst einer wie wir sind. Bis zum bitteren Ende, bis zum Tod. Denn erst im Tod wird er ein wahrer Mensch, erst im Tod hat er seine Göttlichkeit völlig hingegeben. Alles Menschliche erfährt er am eigenen Leib. Und nun erst ist er Gott, der Vollkommene. Nun, da er auch das Unvollkommene am eigenen Leibe, ja: Leibe erlebt hat. Das Leid, den Schmerz, am Ende den Tod, den Gipfel der Unvollkommenheit.
Mein Jesus, bist du mir böse, wenn ich so über dich und deinen Vater rede? Ich glaube, du kannst gar nicht böse sein. Ich glaube, du verstehst uns Menschen so gut, du kennst uns so durch und durch, dass du uns nicht böse sein kannst. Nur traurig, unendlich traurig. Deine Tränen fließen noch heute, Tränen des Schmerzes und der Trauer über das, was Menschen leiden müssen.
Und nun bin ich wieder in Israel, in Jerusalem. In der Kapelle „Dominus Flevit“ – „Der Herr weinte“: Vor mir die Silhouette der Stadt – der am meisten umkämpften Stadt der Weltgeschichte wahrscheinlich. In mir plötzlich Stille. Und auf einmal die tiefe Gewissheit: Ich glaube. Ich glaube, nicht weil ich dafür in den Himmel komme, nicht um einer Belohnung willen. Ich glaube, weil dein Flügel mich gestreift, deine Träne mich getroffen hat. Ich glaube, weil du mir begegnet bist und fortan begegnen wirst in jedem Menschen, der weint. Oder der nicht mehr weint, weil er keine Tränen mehr hat.
Ich glaube nicht mehr an den Tyrannen, den Herrn der Geschichte. Ich glaube nicht mehr an den, der schlägt. Ich glaube an dich, denn du lässt dich schlagen. In dir hat Gott, der Tyrann, seine ganze Grausamkeit, Tyrannei, Willkür ans Kreuz geschlagen, seinen eigenen Schatten.
Nun kann ich es wieder sagen: Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm. Denn die Finsternis ist mit dir ans Kreuz geschlagen: unsere und Gottes Finsternis. Nun kann ich es wieder sagen: Gott ist Liebe. Denn in dir hat sich Gott entwickelt vom Schläger zum Geschlagenen, vom Schlächter zum Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.
Nun kann ich hoffen und mich freuen auf das Ende aller Geschichte, wenn du kommen wirst, zu richten die Lebenden und die Toten. Denn nun weiß ich: Auch dieses Gericht besteht nicht aus Schlagen und Schlachten. Du wirst uns nicht hinrichten, sondern aufrichten und ausrichten auf das Leben. Das glaube ich, mein Jesus, und darauf setze ich mein Vertrauen. Wenn auch alles dagegen zu sprechen scheint: Es ist vollbracht.
Vortrag bei der Konferenz der Theologischen Fakultät Riga mit der Luthergemeinde Riga zum Theme „Kirche am Scheideweg“, 4. März 2022
Erstens: Die Kirche muss sich ändern.
Warum? Hier einige Gedanken dazu:
Menschen entwickeln sich, auch die Gesellschaft entwickelt sich. Diese Entwicklung bedeutet vielfache Veränderungen, im Verhalten, in den Einstellungen, sicher auch in der Spiritualität und in der Art und Weise, wie sich diese Spiritualität ausdrückt.
Es gibt ein Modell, das diese Entwicklung beschreibt. Es geht davon aus, dass die Entwicklung einer bestimmten Gesetzmäßigkeit folgt und in abgrenzbaren, beschreibbaren Phasen verläuft. Wenn ich einige dieser Phasen hier kurz vorstelle, muss ich um Verständnis bitten – es muss wegen der Kürze der Zeit alles sehr holzschnittartig und verkürzt sein. Trotzdem werde ich versuchen, die Phasen, die für unsere Fragestellung relevant sind, kurz zu skizzieren. Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, können Sie in diesem Buch „Gott 9.0“ (lettisch: Dievs 9.0) nachlesen, das ich vor zwölf Jahren mit einem befreundeten Ehepaar zusammen verfasst habe.
1. Bewusstseinsräume
Ich werde im Folgenden nicht von Phasen sprechen, sondern von Bewusstseinsräumen. Menschen, so ist die These, bewegen sich in ihrer Entwicklung jeweils von einem Bewusstseinsraum in den nächsten. Und zwar dann, wenn sich die Lebensbedingungen ändern, entweder die äußeren Lebensbedingungen oder auch die inneren. Wenn die Lösungen, die ein Bewusstseinsraum für die Fragen des Lebens vorhält, nicht mehr angemessen sind, geschieht Entwicklung in den nächsten Raum. Dieser neue Bewusstseinsraum legt sich gewissermaßen um den vorherigen wie ein neuer Jahresring bei einem Baum. Der neue Raum ist somit weiter und umfassender.
Was im Moment noch sehr abstrakt klingen mag, sollte deutlicher werden, wenn ich die einzelnen Bewusstseinsräume beschreibe.
1.1 Der vormoderne oder traditionelle Bewusstseinsraum
Menschen mit einem solchen Bewusstsein legen Wert auf Ordnung, sie fühlen sich wohl mit eindeutigen Spielregeln und klaren Hierarchien. Religion ist hier ein klar gegliedertes System: Gott, eindeutig männlich gedacht, ist der himmlische König, der über allem thront. Er regiert die Welt. Er hat Gesetze erlassen, an die wir uns halten müssen. Wenn wir gegen die Gesetze verstoßen, sind wir Sünder und haben Strafe verdient. Aber Jesus Christus hat die Strafe am Kreuz auf sich genommen, deswegen vergibt uns Gott. Die Bibel ist Gottes Wort, das man zu glauben hat. Die Wunder sind genauso geschehen, wie es in den Evangelien geschildert wird.
Die Liturgie unseres lutherischen Gottesdienstes spiegelt dieses traditionell-vormoderne Bewusstsein weitgehend wider; die lutherische Kirche in Deutschland und, soweit ich weiß, auch in Lettland, ist teilweise noch sehr stark in diesem Bewusstseinsraum zu Hause.
Aber viele Bereiche der Gesellschaft und viele Individuen haben sich aus diesem traditionell-vormodernen Bewusstsein herausentwickelt. Sie sind in die Moderne eingetreten.
1.2 Der moderne oder rationale Bewusstseinsraum.
Die Moderne stellt das Individuum, seine Vernunft und sein Gewissen in den Mittelpunkt. Das Maß aller Dinge ist jetzt nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Die Naturwissenschaften spielen eine zentrale Rolle. Die Wundergeschichten der Bibel werden nicht mehr wörtlich geglaubt, weil sie den Naturgesetzen widersprechen. Überhaupt hat die Religion hier einen schweren Stand. Atheismus, zumindest aber Agnostizismus, wird zu einer oft gewählten Option. Bezeichnend für diesen Bewusstseinsraum ist etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776: Zu den grundlegenden, selbst-evidenten Menschenrechten gehört das (individuelle) Streben nach Glück. Das wäre in einer traditionellen, vormodernen Gesellschaft nicht so selbstverständlich.
Dass sich Menschen in diesem Bewusstseinsraum schwertun mit der traditionell-vormodern verfassten Kirche, ist kein Wunder. Dennoch behalten nicht wenige in diesem Raum ihre spirituelle Praxis weiter bei. Es ist, als ob sie in ihrem modernen, rationalen Bewusstsein eine Kammer ausgespart hätten für die vormoderne Tradition. Die gibt ja immerhin so etwas wie Heimat.
Doch andererseits: Dieses moderne, rationale Bewusstsein ist zumindest in der wissenschaftlichen Theologie vorhanden und auch in allen kirchlichen Reformbestrebungen, die auf mehr Effizienz und Performance setzen.
Hier bleibt die Entwicklung aber nicht stehen. Es folgt eine Phase, die oft als postmodern bezeichnet wird, teilweise auch als spätmodern.
1.3 Der postmoderne oder spätmoderne Bewusstseinsraum
Denn nun werden die Grenzen der Vernunft erkannt und die Probleme, die ein rein rational ausgerichtetes Denken und Handeln mit sich bringt – etwa die Zerstörung der Umwelt oder die Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen und Völker im Interesse des eigenen wirtschaftlichen Vorteils. Es geht nun um Zusammenarbeit, um Gleichberechtigung, um Inklusion. Minderheiten werden wahrgenommen und erhalten ihre Rechte. Das Recht des Stärkeren ist nicht mehr bestimmend, man sucht das Beste für alle, und man sucht es im Diskurs und strebt dabei nach Konsens und Harmonie.
Die Menschen orientieren sich nicht mehr nur nach außen wie im vorherigen Bewusstseinsraum, die Reise geht nach innen. Spiritualität wird wieder entdeckt. Oft wird sie in Gegensatz gebracht zu Religion. Religion wird erlebt als starr, formalistisch, gesetzlich und verknöchert. Spiritualität dagegen wird gesehen als Raum der lebendigen Erfahrung. Meditation und Kontemplation werden wichtig. Konfessionelle Grenzen spielen keine Rolle mehr – die ökumenische Bruderschaft Taizé ist ein gutes Beispiel. Auch die Grenzen zwischen den Religionen werden eingeebnet, spirituelle Praktiken aus allen möglichen Religionen werden ausprobiert: heute Sufi-Tanz, morgen Zen-Meditation, übermorgen Kundalini-Yoga.
In der Europäischen Union, kann man vermuten, lebt etwa ein Viertel der Bevölkerung in diesem postmodernen Bewusstseinsraum, in der Lutherischen Kirche dürfte der Prozentsatz vielleicht geringer sein. Aber soviel ich weiß, spielt gerade in der Luthergemeinde hier in Riga dieses postmoderne Bewusstsein eine große Rolle.
1.4 Probleme des Übergangs
Was geschieht nun, wenn Menschen sich aus einem Bewusstseinsraum heraus und in den nächsten hinein entwickeln? Sie müssen sich Lebensumstände im Äußeren suchen oder schaffen, die der inneren Entwicklung entsprechen. Konkret heißt das: Wenn sich jemand aus dem traditionellen Bewusstsein ins moderne Bewusstsein entwickelt, kann er mit traditionellen Formen nicht mehr so viel anfangen. Jemand, der sehr modern empfindet, denkt und lebt, wird sich etwa von dem traditionellen, vormodernen Gottesdienst nicht mehr angezogen fühlen – mit Ausnahme der Menschen, die sich diese traditionelle Kammer für ihre religiöse Seite bewahrt haben. Aber auch diese Kammer ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Wer dann in den postmodernen Bewusstseinsraum eintritt, für den sind die traditionellen Formen noch weiter entfernt. Wenn es gutgeht, findet ein solcher Mensch dann eine Gemeinde, in der postmodernes Empfinden seinen Platz hat. Eine Gemeinde, in der Kontemplation und Meditation gepflegt wird, in der Inhalte nicht nur gepredigt werden, sondern Diskurse auf Augenhöhe stattfinden und so weiter.
1.5 Der integrale Bewusstseinsraum
Die Sache wird nun noch ein bisschen komplexer. Etwa seit der Jahrtausendwende zeigt sich ein weiterer Bewusstseinsraum, der den postmodernen übersteigt oder umgreift. Manche sprechen von der Metamoderne, meistens wird dieser Bewusstseinsraum aber das integrale Bewusstsein genannt. Integral deswegen, weil es in diesem Raum möglich ist, scheinbar widersprüchliche Ideen und Phänomene zu integrieren. Es wird möglich, das Paradox auszuhalten – mehr noch: Es wird erkennbar, dass oft nur paradoxe Aussagen die Wirklichkeit in ihrer Komplexität angemessen beschreiben können. Das beste Beispiel ist die Natur des Lichts: Je nachdem, welches Messverfahren angewendet wird, stellt sich das Licht entweder als immaterielle Welle dar, die sich nach allen Seiten gleichmäßig im Raum ausbreitet, oder als Strom von Partikeln, die man gerne mit winzigen Billardkugeln vergleicht. Analog zu dieser naturwissenschaftlichen Paradoxie lassen sich nun auch gesellschaftliche Prozesse oder theologische Aussagen als Paradox auffassen. Dies auszuführen wäre einen eigenen langen Vortrag wert, hier fehlt leider die Zeit dazu.
Eine wichtige Eigenschaft dieses integralen Bewusstseinsraums will ich aber noch erwähnen. Von hier aus ist es möglich, alle vorherigen Bewusstseinsräume als notwendig zu akzeptieren. Menschen stehen an unterschiedlichen Stellen in der Entwicklung und brauchen deshalb auch unterschiedliche Sozialformen oder unterschiedliche spirituelle und religiöse Angebote. Während etwa ein Mensch im traditionellen Bewusstsein alles Moderne und Postmoderne als häretisch abtut, kann das integrale Bewusstsein erkennen und akzeptieren, dass dieser Mensch eine vormoderne, mythische Religiosität braucht. Denn die unterschiedlichen Bewusstseinsräume mit ihren spezifischen Formen haben ihre Berechtigung. So ist es, zumindest theoretisch, möglich, unterschiedlichste Kirchen und Gemeinden und ihre jeweiligen Traditionen in eine Gesamtkirche zu integrieren, in der alle zu ihrem Recht kommen.
Aus dieser Perspektive ist auch Entwicklung etwas Selbstverständliches und Unausweichliches. Und es kommt darauf an, Entwicklung nicht nur passiv zu erleiden, sondern aktiv zu gestalten.
2. Entwicklung
Ich möchte jetzt speziell auf die mögliche Entwicklung der Kirche eingehen. Hier sehe ich grundsätzlich zwei verschiedene Weisen von Entwicklung: Translation und Transformation. Die Unterscheidung stammt von Ken Wilber und wurde ursprünglich in einem etwas anderen Kontext geprägt, aber ich finde, sie passt sehr gut als Beschreibung für zwei Arten von Entwicklungsprozessen, der die Kirche sich unterziehen kann.
2.1 Translation
Translation bedeutet, wörtlich genommen: Einen Inhalt in eine andere Sprache zu transferieren.
Laut Ernst Lange, einem deutschen Praktischen Theologen der 1960er- und 70er-Jahre, ist die Kernaufgabe der Kirche die „Kommunikation des Evangeliums“. Diese Beschreibung ist in sich schon eine Translation, denn „Kommunikation“ heißt nicht einfach „Predigen“. Kommunikation ist etwas Wechselseitiges, ein Dialog, in den ich das Evangelium als eine Position einbringe. Und Kommunikation besteht nicht nur aus Worten. Auch unsere Handlungen sprechen, unsere Gottesdienstformen, die liturgischen Gesten, die Musik, ebenso wie die Angebote in unserem Gemeindehaus.
Translation bedeutet also zu einen, verbal eine neue Sprache zu finden. Neue Bibelübersetzungen, Liturgiereformen und Bemühungen um zeitgemäße Formulierungen in Gebeten und sonstigen liturgischen Texten.
Translation kann sich zum anderen aber auch auf den Gottesdienst beziehen, auf sozialdiakonisches Handeln und ebenso auf die Organisation Kirche als Ganze.
Es gibt ja schon vieles, was man in diese Kategorie einordnen könnte. Um der Krise der Kirche zu begegnen, werden alle möglichen translativen Anstrengungen unternommen. Angefangen bei den kirchlichen Strukturen: Gemeinden werden zusammengelegt, Pfarrstellen gestrichen, Kirchen oder Gemeindehäuser aufgegeben, es werden Teampfarrämter gebildet, regionale Kooperationen. Da machen nicht mehr alle Pfarrer mehr oder weniger dasselbe, sondern die einzelnen Teammitglieder nehmen je nach ihren Stärken und Interessen unterschiedliche Aufgaben wahr. So einschneidend manche solcher struktureller Veränderungen sein mögen, sie ändern nichts an der grundlegenden Verfasstheit der Kirche.
Dasselbe gilt für die Translation auf Ebene der Gemeindearbeit. Da gibt es – zumindest in Deutschland – in den meisten Gemeinden alle möglichen Ansätze. Viele Kirchengemeinden haben die Notwendigkeit erkannt, ihr Gemeindeprofil zu modernisieren, ihre Aktivitäten den Bedürfnissen der Zeitgenossen anzupassen und neue Wege der kirchlichen Arbeit zu erproben. Es gibt das sogenannte „zweite Gottesdienstprogramm“, es gibt alle möglichen Formen von Gruppenangeboten, Online-Angebote und Social-Media-Aktivitäten.
Das sind alles gute und wichtige Ansätze, die ja auch an vielen Orten mit viel Liebe und Herzblut umgesetzt werden. Je nachdem, wie gut die Umsetzung gelingt, werden durchaus auch neue Zielgruppen erreicht, Menschen werden angesprochen, die sich bisher nicht zur Gemeinde gehalten haben. Menschen, die sich in weitere Bewusstseinsräume hinein entwickelt haben, können wieder Anschluss finden.
Insgesamt aber bleibt die Struktur der kirchlichen Arbeit unangetastet. Hier ist die Gemeinde, mit Kirche und Gemeindehaus als Zentrum, der Pfarrer spielt die tragende Rolle. Das heimliche oder auch offen ausgesprochene Ziel ist meistens, dass doch mehr Menschen für den traditionellen Sonntagsgottesdienst gewonnen werden oder sich zumindest im Gemeindehaus und im Dunstkreis der Kirchengemeinde aufhalten.
Und noch eine weitere Beobachtung: Bei den meisten dieser Versuche liegt eine Vorstellung von Drinnen und Draußen zugrunde: Wir sind hier, in der Kirche, und wir haben hier etwas, was wir den Menschen geben wollen – das Evangelium oder eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen. Diese Weltsicht wollen wir den Menschen „da draußen“ vermitteln. Wenn sie schon nicht zu uns hereinkommen, sollen sie doch wenigstens unsere Botschaft hören und annehmen.
Fresh Expressions of Church
Allerdings ändert sich hier allmählich etwas. Am deutlichsten wird mir das bei der Bewegung „Fresh Expressions of Church“, kurz FreshX – eine Bewegung, die aus England kommend jetzt auch in Deutschland für neuen Wind sorgt. Aus der Vielzahl der Initiativen wähle ich eher zufällig einige aus.
St. Andrew’s Fulham Fields
Das Gemeindeleben in St. Andrew’s im westlichen London lag wohl ziemlich am Boden, als Guy Wilkinson als Pfarrer dort anfing. Er begann mit einigen einschneidenden Änderungen. Er ließ das feste Kirchengestühl herausreißen und einen warmen Parkettboden verlegen. In den Eingangsbereich wurde ein mehrgeschossiger Einbau aus Glas gesetzt, der unten ein Café und oben Büros beherbergt. Und die Gemeindearbeit wurde gründlich umgekrempelt: Sonntags findet in der Kirche ein High Church Service mit voller anglikanischer Liturgie statt, unter der Woche aber treffen sich Kindergruppen im Kirchenraum. Die Eltern, die ihre Kinder abholen, sitzen im Café und kommen auf diese Weise selbst in Kontakt mit der Gemeinde. Für ältere Jugendliche werden Hausaufgabenhilfe und Abitur-Vorbereitung angeboten, am Samstag gibt es Essen für Obdachlose – alles im umgestalteten Kirchenraum. Und noch etwas: Jede Woche gehen die beiden Pfarrer der Kirche zu Fuß durch den Gemeindebezirk, erkennbar durch ihre Collarhemden, und sind ansprechbar. Auf diese Weise halten sie Kontakt zu ihren Gemeindegliedern und erfahren direkt, was diese bewegt.
Cornerstone Church Cranbrook
Ganz anders und doch ähnlich ging Mark Gilborson im Neubaugebiet Cranbrook in Exeter im Südwesten Englands vor. Dort hatte der Investor, der das Gelände bebaute, zunächst keine Kirche vorgesehen. So taten sich verschiedene christliche Denominationen zusammen, um ein ökumenisches Gemeindeprojekt zu gründen. Ein Jahr lang gab es keine Gottesdienstangebote. Stattdessen ging der Pfarrer von Tür zu Tür, ausgestattet mit Stofftaschen, in denen sich Kekse, ein Busfahrplan und andere nützliche Kleinigkeiten befanden. So führte er ein ganzes Jahr lang nur Gespräche mit den Einwohnern, um deren Bedürfnisse kennenzulernen. Als Folge setzte sich die Gemeinde etwa für eine neue Buslinie ein, die zum nächsten größeren Einkaufszentrum führte. Der Investor oder die Verkehrsgesellschaft hatten einfach übersehen, dass die Menschen ja einkaufen müssen.
Was die geistlichen Aktivitäten angeht, trafen sich anfangs nur die engsten Mitarbeiter wöchentlich zum Gebet. Nach einem Jahr wurde der erste Gottesdienst angeboten, in der Schule. Einmal im Monat ist „messy church“, ein Kinder- und Familiengottesdienst, bei dem es laut und bunt zugeht. Und alle zwei Monate sieht der Gottesdienst noch einmal ganz anders aus: Statt einer liturgischen Feier veranstaltet die Gemeinde eine Aktivität zum Wohl der Einwohner: Man geht gemeinsam Müll aufsammeln oder bietet an, Autos zu waschen… Es geht darum, den Menschen zu dienen. Soviel ich weiß, haben sie bis heute kein Kirchengebäude errichtet.
St. Paul’s Hounslow
In der Kirche in Hounslow nahe dem Flughafen Heathrow wird wochentags Kaffee ausgeschenkt, wie in St. Andrew’s einfach im Kirchenraum. Arme (aber auch weniger Arme) bekommen dort ein günstiges Mittagessen, die Gemeinde betreibt eine intensive Kinderarbeit, veranstaltet regelmäßig Alpha-Kurse. An sich nichts Spektakuläres. Ich führe dieses Beispiel an, weil mich die Begründung der Pfarrerin so angesprochen hat. „Die Menschen müssen spüren, dass hier etwas für sie geschieht. Sie müssen merken, dass das, was gepredigt wird, für ihr tägliches Leben Bedeutung hat. Sie sind erst dann offen für das Evangelium, wenn sie merken, dass das etwas zu tun hat, was ihnen in ihrem Alltag begegnet“, sagt Libby Etherington. Und sie fährt fort: „Das wahre Geheimnis ist, auf Gott zu hören.“ So weit, so gut, das kennen wir ja. Doch jetzt kommt der entscheidende Zusatz: „Man muss das Evangelium durch den Filter der lokalen Umstände hören.“
Das ist reine Kontextualität, eine gut postmoderne Einstellung. Was brauchen die Menschen? Das ist die entscheidende Frage. Es kommt auf die Menschen an. Für die FreshX gelten einige Grundsätze, die nirgends festgelegt sind, die ich aber immer wieder beobachtet habe:
Grundsätze der FreshX
Kontextualität. Das Angebot, das Kirche macht, muss zu den Menschen vor Ort passen. Gemeinden sind sehr unterschiedlich, was ihre soziale Struktur angeht, den Bildungsgrad der Bevölkerung, die Altersstruktur usw., und jede Gemeinde liegt in einem konkreten Ort mit seinen je eigenen Bedingungen: Infrastruktur, ethnische Mischung der Bevölkerung usw. Darauf einzugehen ist das Allererste, was Not tut. Das bedeutet: Die Menschen vor Ort befragen, bevor man mit Angeboten beginnt. Denn „den Menschen“ oder „die Gemeinde“ gibt es nicht, es gibt immer nur konkrete Individuen, konkrete Gruppen, und konkrete Orte mit ihrem jeweiligen konkreten Kontext.
Menschen sind wichtiger als Räume. Altehrwürdige Kirchen werden umgebaut und dienen als Kinderspielplatz, als Speisesaal, als Ort für Seminare, Vorträge, Konzerte, auch mal für Tanzveranstaltungen. In einem Neubaugebiet muss nicht als Erstes eine Kirche gebaut werden. Viel wichtiger ist es, mit den Einwohnern ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was sie brauchen. Veranstaltungen bis hin zu Gottesdiensten können in angemieteten Räumen stattfinden.
Diakonische Aktivitäten in der Kirchengemeinde. Überall da, wo diakonische Aktivitäten – Essensausgaben, Hausaufgabenhilfe, Einkaufshilfen usw. – in den Gemeinden stattfinden, wird auch das Gemeindeleben aktiviert – bis hin zum Gottesdienstbesuch. Menschen tauchen auf, die bisher keinen Kontakt zur Kirche hatten, weil sie merken: Hier geschieht etwas, was gut ist für die Menschen und die Nachbarschaft. Bei manchen Menschen, die mit der traditionellen, vormodernen Kirche nichts mehr anfangen konnten, weil sie selbst den traditionellen Bewusstseinsraum längst hinter sich gelassen haben, wird Interesse an der Kirche geweckt.
Interkonfessionelle Zusammenarbeit bis hin zu transreligiöser Zusammenarbeit. In England geht das bis hin zu Anstellungsverhältnissen. In Cranbrook ist die Anglikanische Kirche offizielle Trägerin der Gemeinde, der Pfarrer aber ist Methodist. Auch dies ein gutes Beispiel für Handeln aus dem postmodernen Bewusstsein heraus, das eher auf Zusammenarbeit und gegenseitige Anerkennung ausgelegt ist als auf Abgrenzung und darauf, das je Eigene eifersüchtig zu hüten.
Kommen wir nun zum zweiten großen Punkt, zur Transformation.
2.2 Transformation
Während es bei Translation (=Übersetzung) darum geht, den bekannten Inhalt von einer Sprache in die andere zu übersetzen (also neue Formen, neue Sprache, neue Musik), geht es bei TransFORMation um eine neue Form. Das bedeutet, radikal gesprochen, dass die herkömmliche Gemeindestruktur aufgegeben oder zumindest infrage gestellt wird. Ein Satz von Dietrich Bonhoeffer könnte hier als Überschrift dienen, der in einem seiner Briefe aus der Gestapo-Haft geschrieben hat: „Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist.“
Wenn ich diesen Gedanken radikal ausdenke, bedeutet das: Wir deuten das Innen-Außen-Prinzip um. Es geht nicht mehr darum, Menschen „hereinzuholen“, damit sie Gemeindeglieder werden oder sich zu Jesus Christus bekehren, wie wir ihn verstehen. Sondern es geht darum, den Menschen zu dienen. Kirche ist dabei unter Umständen gar nicht mehr als Kirche erkennbar. Aber das muss ja vielleicht gar nicht so schlimm sein.
Ich möchte auch hier einige Beispiele bringen, die noch über die FreshX hinausgehen.
De Nieuwe Poort, Amsterdam. Im Jahr 2012, mitten in der Weltwirtschaftskrise, startete ein Pfarrer in Amsterdam ein Programm, um langzeitarbeitslosen Menschen Ausbildung und Beschäftigung zu ermöglichen. Er fand im feinsten Büroviertel ein großes Gebäude, das aufgrund der Krise leer stand, und konnte es sehr günstig mieten. Ein Restaurant mit eigener Kaffeerösterei entstand, in dem Menschen, die gerade aus der Haft entlassen waren, und andere, die lange arbeitslos waren, einen Beruf erlernen und arbeiten konnten. Bis heute finanziert sich das Projekt durch die Einnahmen aus dem Restaurant und durch die Vermietung von Konferenzräumen – das Gebäude ist wirklich sehr groß. Gleichzeitig gründete er eine „New University“, in der „Kurse für Leben und Arbeit“ angeboten werden. Hier erhalten Menschen die Möglichkeit, über ihr Leben und dessen Sinn zu reflektieren. Nirgends wird das Wort „Kirche“ erwähnt, und dennoch ist De Nieuwe Poort für mich ein gelungenes Beispiel für kirchliche Transformation. Die Menschen bekommen, was sie brauchen: gutes Essen und hervorragenden Kaffee, Gespräche und Seminare zu Sinnfragen, in denen die Bibel eine wichtige Rolle spielt – aber eben nicht als einzige Quelle, sondern als eine Quelle neben anderen.
Refo Moabit. In Berlin ist die Kirche zur marginalen Größe geworden. Die Reformationskirche im Stadtteil Moabit stand leer, die Gemeinde war praktisch aufgelöst. Da kam eine Gruppe junger Menschen, die nach neuen Wegen des Christseins suchten, und übernahmen Kirche, Gemeindehaus und die Pfarrerwohnungen, die nicht mehr gebraucht wurden. Sie gründeten einen Konvent, eine moderne Form von Lebensgemeinschaft mit einer gewissen Verbindlichkeit, aber ohne Zölibat oder ähnliche monastische Verpflichtungen. Auch sie gingen als Erstes durch die Straßen und fragten die Menschen, was sie brauchten. So entstanden als Erstes eine große Kindertagesstätte und ein Jugend-Theaterprojekt, dazu ein wöchentliches Abendessen für die Menschen im Viertel. Gottesdienste werden auch gefeiert, aber nur einmal im Monat, dafür gibt es jeden Mittwoch Meditation nach Ignatius von Loyola und zweimal im Monat Kontemplation.
Was diese Initiative unterscheidet von den FreshX-Projekten und weshalb ich sie als Beispiel für Transformation aufführe, ist dies: Es gibt keine von der Großkirche bezahlten Hauptamtlichen, es ist eine Initiative von Menschen, von Christen, die einfach für andere da sein wollen. Zwar gab es eine Anschubfinanzierung durch die Landeskirche – die Gebäude mussten umgebaut werden. Aber die laufenden Kosten werden durch Spenden und durch Vermietung von Räumen aufgebracht. Die Refo versteht sich als „ein offener, gastfreundlicher Gottes-Ort“ und betont gleichzeitig: „Wir können Menschen in unsere Hoffnung hineinnehmen und mit ihnen hoffnungsvoll leben, ohne dass sie den Grund unserer Hoffnung für sich annehmen können.“
Online-Gemeinde. Die Digitalisierung bietet ganz neue Möglichkeiten. Gerade in der Pandemie haben viele Gemeinden gelernt, die Möglichkeiten der Online-Kommunikation zu nutzen und wertzuschätzen. Aber schon vorher gab es Ansätze, diese Online-Kommunikation für christliche Gemeinschaft zu nutzen. Nicht als Notbehelf, sondern als echte Chance. Noch ist es so, dass es nicht so sehr viele Menschen mit einem integralen Mindset gibt. Es ist für diese Menschen nicht einfach, in räumlicher Nähe Christen zu finden, die ähnlich denken, glauben und leben wollen wie sie selbst.
Ich möchte kurz zwei Beispiele anführen, wie eine solche Online-Gemeinde aussehen kann. Die eine funktioniert bisher rein online auf der Kommunikationsplattform Slack. Alle vier Monate gibt es Plenumstreffen per Zoom, zu denen alle eingeladen sind, um über das vergangene Trimester zu reflektieren und für das kommende zu planen. In den vier Monaten zwischen diesen Plenumstreffen finden alle möglichen Treffen statt: Lesegruppen, Meditationsgruppen, Geistliche Begleitung, Austauschrunden, in denen die Mitglieder über ihre Praxis vor Ort sprechen können, und vieles mehr. Organisiert werden diese Treffen von Mitgliedern: Wer eine Idee hat, lädt offen dazu ein. Wer teilnimmt, ist dabei. Es gibt ein Lenkungsgremium, das aber nicht feststeht – auch hier gilt: Wer teilnehmen und Verantwortung übernehmen will, ist dabei. Für den Sommer ist erstmal ein Offline-Treffen geplant, zu dem Menschen aus ganz Deutschland und Österreich zusammenkommen sollen.
Das andere beruht auf einem YouTube-Channel, den Joerg Urbschat, ein Pfarrer der Nordkirche begründet hat und mehrmals in der Woche bespielt. Darin geht es um Natur und Spiritualität. Aus den mehr als 4000 Followern, die dieser Kanal inzwischen hat, hat sich mittlerweile ein Netzwerk gebildet, in dem sich Gleichgesinnte vor Ort finden und offline treffen können. Die Organisationsstruktur ist sehr locker und flach, es gibt keine Hierarchien, alles geschieht auf Augenhöhe.
Ob diese Initiativen Zukunft haben und als Modell für die Zukunft der Kirche taugen, kann ich nicht sagen. Aber sie erfüllen praktisch alle Kriterien für Transformation, die ich gleich nennen möchte.
Zuvor noch ein letztes Modell, das es nur teilweise in der Wirklichkeit gibt. Es ist meine persönliche Vision von Kirche.
Mein Traum. Ich habe die letzten 15 Jahre meines aktiven Berufslebens in einer Krisenberatungsstelle gearbeitet – ein Raum am zentralen Platz der Stadt, dessen Tür offensteht. Menschen können ohne Anmeldung und ohne Terminvereinbarung einfach hereinkommen und finden jemand, der mit ihnen über ihre Probleme und Lebensthemen spricht. Das war für mich die ideale Kirche – fast. Was fehlt, ist ein Raum der Stille, in dem sich Menschen mitten im Trubel der Großstadt für ein paar Minuten zurückziehen können, wo auch gemeinsame Gebete, Meditationskurse usw. angeboten werden können. Um den Traum perfekt zu machen, wäre dieser Ort getragen von einer Gemeinschaft von Menschen, wie in Moabit, die ohne finanzielle Mittel der Großkirche auskommen. In meinem Traum gibt es in einer Großstadt wie München sechs oder acht oder zehn solcher Zentren. Noch ist es ein Traum.
Kriterien für Transformation
Diese Gesichtspunkte sind für mich bestimmend, wenn es um Transformation der Kirche geht:
Eine transformierte Kirche ist unabhängig von der Kirchensteuer (ein Punkt, der sehr deutsch ist – bei Ihnen in Lettland gilt das schon lange). Sie hat keine fest angestellten Mitarbeiter und wenn doch, werden diese auf Zeit gewählt. Denn jedes Engagement, hauptamtlich oder ehrenamtlich, ist zeitlich befristet auf, sagen wir, zwei oder drei Jahre, und wird dann überprüft, kann verlängert, aber auch ohne Diskussion zurückgegeben werden. Die Leitungsstrukturen sind demokratisch und fluide. Es braucht keine kirchlich erkennbaren Räume, und wenn es sie doch gibt, wie in Moabit, werden sie umgestaltet und bewohnbar gemacht. Das Alltagsleben soll sich in ihnen abspielen können. Die Gemeinschaft ist in ihrem Denken, Beten und Handeln offen, sie ist transkonfessionell und interreligiös offen.
Es gäbe an diesem Punkt noch viel zu träumen und zu imaginieren, auch von manchen gelungenen Projekten könnte man noch erzählen. Aber ich möchte zum Schluss noch auf den dritten Punkt zu sprechen kommen, die radikalste Transformation, die man sich vorstellen kann: Können wir die Kirche sterben lassen?
3. Sterben lassen
Ich möchte es gleich vorneweg sagen: Das Folgende ist ein reines Gedankenexperiment. Es ist kein Vorschlag und ich gehe nicht davon aus, dass es in die Tat umgesetzt wird. Trotzdem möchte ich dieses Gedankenexperiment wagen. Manchmal helfen radikale Vorstellungen, einen klareren Blick auf Gegenwart und Zukunft zu werfen.
Was also, wenn die Synode heute erklären würde: „In sieben Jahren wird die Kirche abgeschafft sein. Am 1. März 2029 sind alle Liegenschaften verkauft, alle Mitarbeitenden entlassen, alle Aktivitäten eingestellt.“
Sieben Jahre sind eine gute Zeit – einmal ist sieben ja eine heilige und gut biblische Zahl. Zum anderen würden sieben Jahre genug Zeit geben, die Kirchen, Gemeindehäuser und Grundstücke zu verkaufen. Die Pfarrer könnten die Zeit nutzen, um umzuschulen – als Therapeuten, Kraftfahrer, Personalsachbearbeiter, Künstler oder Handwerker, je nach ihren Fähigkeiten.
So würde das langsame Siechtum verhindert, das langsame Absterben einer Institution, die sich überlebt hat – zumindest könnte das eine Lesart der Geschichte sein.
Was käme dann?
Mit der Kirche würden ja nicht unbedingt die Christen verschwinden. Kirchliche Mitarbeiter, die keine Anstellung mehr haben, könnten ihre Überzeugung trotzdem irgendwie weitertragen, in Hauskreisen, Vereinen, Initiativen aller Art. Christen, die nicht mehr von einer Gemeinde versorgt werden, können sich selbst organisieren, wie es in Apostelgeschichte 2 (46b–47a) steht: „Sie brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“ Wenn das vor 2000 Jahren möglich war, wieso sollte es nicht auch heute gehen?
Es wäre keine leichte Zeit, eine Zeit zwischen Karfreitag und Ostern. Aber gerade dieser Vergleich zeigt, dass Gottes Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft sind. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh 12,24) Ich möchte Sie einladen, sich auf das Gedankenexperiment einzulassen, es wird sich nachher auch einer der Workshops um dieses Thema drehen. Welche fruchtbaren Phantasien setzt diese Vorstellung frei? Wie kann die gedachte Karsamstagssituation unsere Imagination in Richtung Transformation der Kirche in Gang setzen?
Ich lasse diese Frage hier einmal stehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Internationaler Online-Kongress Wandel-mit-Spirit vom 27. Mai bis 6. Juni – hoch aktuell gerade jetzt!
Die brennenden Fragen unserer Zeit werden beim Kongress „auf den Kopf gestellt“ und neue Perspektiven gefunden auf Fragen wie:
Wo ist der Ursprung unserer MENSCHLICHKEIT?
Wie können wir unser Leben und unseren Planeten aus der Kraftquelle des EINEN-DEN gestalten, anstatt uns von Ereignissen wie Pandemie, Krieg und Klimakrise ausbremsen zu lassen?
Dazu wurden bekannte Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Gebieten interviewt, darunter:
Gerald Hüther
Vivian Dittmar
Haim Omer
Elisabeth Lukas
Sebastian Painadath
Marion Küstenmacher und Tilmann Haberer
Lutz Kosack
Sabine Bobert
Michael und Anselm Grün
Hannah Nathans und Jalda Rebling
und viele weitere WeltgestalterInnen aus der Kraft des EINEN-DEN aus verschiedenen Lebensbereichen und Kulturen!
Es kostet nichts und du kannst dabei gleichzeitig etwas Gutes tun: Für jede Anmeldung wird ein Baumgepflanzt und eine warme Mahlzeit für ein Schulkind in einem Krisenland gesponsert.
Die Dreieinigkeit Gottes, Christus als Gottes Sohn, Schöpfung, Sünde und Erlösung: antiquierte Begriffe, von denen ein modernes Christentum sich verabschieden muss? Ganz im Gegenteil – ich bin überzeugt, dass gerade diese so sperrig erscheinenden Dogmen erstaunliche Kraft entfalten können, wenn sie zeitgemäß interpretiert werden. Sie müssen auf die Denkvoraussetzungen des 21. Jahrhunderts bezogen werden, die von Relativitätstheorie und Quantenphysik, von Psychoanalyse und Globalisierung geprägt sind. So gewinnen die traditionellen Kernaussagen des christlichen Glaubens neue Strahlkraft. Genau darum geht es mir in diesem Buch.
Natürlich: Das Reden von Gott ist problematisch geworden, alte Gottesbilder tragen nicht mehr und viele Menschen wenden sich vom Christentum ab. Wie jede Religion und jedes spirituelle System ist der christliche Glaube ein menschlicher und damit unvollkommener Versuch, Gott zu begreifen. Diese Versuche sind immer zeitgebunden und ich finde, es ist an der Zeit, einen neuen Versuch zu starten.
Dabei lege ich die integrale Theorie zugrunde, als deren wichtigster Vertreter Ken Wilber zu nennen ist. In dieser Theorie geht es darum, natur-, human- und geisteswissenschaftliche Denkansätze, östliche und westliche Weltansichten, rationale und spirituelle Weisheiten miteinander zu integrieren. Darauf baut mein „Entwurf einer integralen Theologie“ auf. Es geht mir nicht darum, apologetisch und rückwärtsgewandt die alten Wahrheiten zu verteidigen. Vielmehr versuche ich, diese alten Wahrheiten vorwärts zu denken.
Aus der Einleitung: Dieses Buch „plädiert für ein Christentum und ein christlich geprägtes Denken, das der geistigen Wirklichkeit der Gegenwart nicht mehr nur hinterherhinkt (oder sich ängstlich dagegen abschottet), sondern das Gespräch mit dieser Wirklichkeit aufnimmt, und mehr noch diese weiter- und vorwärtsdenkt. Wie wäre es, wenn Christen ihre alten, bewährten Inhalte in die neuen Kontexte stellten und sie so ganz überraschend und spannend neu sprechen ließen? Wenn die alten Inhalte anfingen, in neuem, unerhörtem Glanz zu strahlen, weil die Krusten des traditionell-mythischen Denkens abgeputzt wurden und ein integrales Denken in ihnen eine aufregende Bewegung entdeckt?“
Wer auf die Schnelle mehr erfahren möchte, dem lege ich diese sehr ausführliche, kluge, in Teilen durchaus auch kritische, aber überwiegend zustimmende Rezension von Giannina Wedde ans Herz: https://www.klanggebet.de/blog/kritisches/
Vortrag beim Konvent der Altenheimseelsorge der ELKB am 10.11.2021 (also am 538. Geburtstag Martin Luthers) sowie bei der Konferenz der Evangelischen Dienste München am 13.10.2021
Im Jahr 1987 nahm Marius Müller-Westernhagen ein Lied auf, das zwei Jahre später ganz unbeabsichtigt zur Hymne der deutschen Vereinigung wurde: „Freiheit“. Es gibt eine Live-Aufnahme vom Dezember 1989, zwei Monate nach dem Mauerfall. „Freiheit, Freiheit ist das Einzige, was zählt“, singt das gesamte Auditorium aus voller Brust, fast andächtig. Es klingt wie ein Choral.
Freiheit, Freiheit ist das Einzige, was zählt: Im Herbst und Winter 1989 wurde das für uns Deutsche besonders erfahrbar. Was den Veränderungswillen der Menschen in der DDR 1989 anfachte, war ja nicht die materielle Not, nicht der Mangel an Bananen oder Bohnenkaffee. Es war der Mangel an Freiheit. Die Freiheit zu reisen an erster Stelle, und natürlich die Freiheit, offen seine Meinung zu sagen. Ob dann, nach Mauerfall und gesamtdeutschen Wahlen, die große Freiheit tatsächlich kam, darüber mag man streiten. Wie frei sind wir in unserem freien Land? Wie frei sind wir, wenn Instagram uns sagt, wie wir auszusehen haben, wenn Google uns den Weg weist und uns dabei unmerklich Konsumwünsche unterschiebt, von denen wir vorher keine Ahnung hatten? Was heißt Freiheit überhaupt?
Ein zweites Lied, fast 20 Jahre älter als das erste und damit eher eine Hymne meiner Generation, macht dazu eine klare Aussage. Freedom is just another word for nothing left to lose – Freiheit heißt einfach, nichts zu verlieren zu haben, singt Janis Joplin kurz vor ihrem Tod durch eine Überdosis Heroin im Oktober 1970. Nichts verlieren zu haben – das klingt ziemlich radikal, aber im Grunde stimmt es. Wer eh nichts mehr zu verlieren hat, muss sich nicht absichern, der kann aufs Ganze gehen, muss keine Rücksichten nehmen, hat alle Freiheit der Welt.
Das führt mich zu einem dritten Zitat, diesmal kein Musikstück, sondern ein Buchtitel: „Du hast nichts zu verlieren außer deiner Angst.“ Und damit kommen wir dem Thema schon ziemlich nahe. Denn Angst spielte im Leben von Martin Luther eine eminent große Rolle, und als er seine Angst verloren hatte, war er tatsächlich – frei.
Dazu möchte ich eine kurze biografische Bemerkung machen. Martin Luther, geboren 1483, war Sohn des Unternehmers Hans Luder; der Wechsel von Luder zu Luther, also von „d“ zu „th“ im Nachnamen hat eine tiefere Bedeutung, wie wir gleich sehen werden. Der Vater Luder besaß mehrere Silberminen in Thüringen und schickte seinen ältesten Sohn auf die Universität zum Jurastudium. Einen Anwalt in der Familie konnte ein Unternehmer schon damals gut brauchen.
Aber bei den Rechtswissenschaften blieb Martin Luder nicht lange. Mit 21 Jahren, am 2. Juli 1505, wurde er bei dem Dorf Stotternheim in der Nähe von Erfurt auf freiem Feld von einem heftigen Gewitter überrascht.
Als ganz in seiner Nähe ein Blitz einschlug – manche Quellen sagen auch, dass ein Freund von diesem Blitz erschlagen wurde –, soll er gerufen haben: „Hilf, heilige Anna! Lässt Du mich leben, so will ich ein Mönch werden!“ Die heilige Anna, der Legende nach die Mutter Marias und damit die Großmutter Jesu, war die Schutzpatronin der Bergleute, so lag es nahe, dass Martin sich an sie wandte.
Das Versprechen war nicht nur so dahingesagt. Wir wissen nicht, ob sich Martin Luder schon vorher mit dem Gedanken getragen hatte, das Jurastudium aufzugeben und sich dem Mönchsleben zu verschreiben. Sicher ist nur, dass er dieses spontane Gelübde eingehalten hat und wenige Tage später ins Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt eintrat, sehr zum Ärger des Vaters und zur Trauer der Kommilitonen, die ihren Martin als lustigen, musikalischen Gesellen kennen und schätzen gelernt hatten.
Nun kann man sicher verstehen, dass einem so ein Gewitter Todesangst einjagen kann. Aber so viel wir wissen, war es gar nicht unbedingt die Angst vor dem Sterben an sich, die das Gelübde aus Luder herausbrechen ließ. Tod und Sterben waren zu seiner Zeit allgegenwärtig. Der Sohn eines Bergwerksbesitzers wusste nur zu gut um die Grubenunglücke, die regelmäßig Todesopfer forderten. Die Kindersterblichkeit war erheblich und auch viele Frauen starben bei der Geburt oder im Kindbett. Immer wieder wütete die Pest und entvölkerte regelmäßig ganze Landstriche. Jede kleine Verletzung konnte sich infizieren und Wundbrand, also eine tödliche Sepsis auslösen. Tuberkulose, Grippe, Blinddarmentzündung – alles Krankheiten, die wir heute mit Antibiotika oder einer Routine-Operation leicht in den Griff bekommen. Damals führten sie in den meisten Fällen rasch zum Tod. Und immer wieder gab es Kriege, die meist auch die Zivilbevölkerung schwer in Mitleidenschaft zogen. Die Menschen lebten ganz anders mit dem Tod als heute, er war viel mehr Teil des Lebens und des Alltags. Das heißt natürlich nicht, dass die Menschen keine Angst vor dem Sterben hatten, Todesangst ist etwas ganz Kreatürliches.
Aber schwerer wog eine andere Angst, nämlich die Angst vor dem, was nach dem Tod kommt. Darstellungen des Jüngsten Gerichts waren allgegenwärtig, und Gott wurde verstanden als der strenge, unerbittliche Richter, der gerecht, das heißt nach dem Buchstaben des Gesetzes entscheidet. Gelegenheiten, sich gegen Gottes Gebote zu verfehlen, gab es unendlich viele, und jede zog eine schwere Strafe nach sich. Schlimmer noch: Jeder Verstoß gegen ein Gebot, das Gott in seiner unendlichen Majestät erlassen hatte, war eine Beleidigung dieser unendlichen Majestät und musste mit einer unendlichen Strafe geahndet werden: mit dem ewigen Tod in der Hölle.
Es gab nur ein Mittel, um dem zu entkommen: die Sakramente der Kirche, allen voran Beichte und Eucharistie. Wer alles gebeichtet hatte und nach dem Empfang der Eucharistie, wie es hieß, „im Stand der Gnade“ war, war gerettet. Das war aber eine äußerst prekäre Angelegenheit, streng genommen musste jede, wirklich jede noch so kleine Sünde gebeichtet werden – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Luder aber nahm es sehr streng. Er sagt von sich selbst: Immer wieder, nachdem er stundenlang alle Ecken und Falten seines Ichs ergründet und dann alles gebeichtet hatte, sei er noch auf dem Weg vom Beichtstuhl in seine Zelle wieder umgekehrt – entweder, weil ihm doch noch eine ungebeichtete Sünde eingefallen war oder weil ihm unterwegs schon wieder ein „sündiger“ Gedanke gekommen war.
Schlimmer als einfach „nur“ zu sterben war also der rasche, unvorbereitete Tod, wie Luder ihn bei dem Gewitter befürchtete. Denn ihm war seit seiner letzten Beichte bestimmt ein ungehöriger Gedanke gekommen, ein Fluch herausgerutscht. Vielleicht hatte ihn ein Anflug von Neid oder Stolz oder Zorn gepackt, alles Todsünden, die einen in der Hölle enden ließen. Am ehesten konnte man dem noch im Kloster entgehen, denn da gab es nicht so viel Gelegenheit zum Sündigen – nach landläufiger Ansicht jedenfalls. Die Realität sah anders aus, denn Luder merkte sehr schnell, dass ihm auch dort andauernd der Teufel auflauerte, der ihn zur Sünde bewegen und ihn zu sich in die Hölle ziehen wollte. Der Teufel war für Luder und seine Zeitgenossen eine ganz reale Macht. Wenn Gott das höchste Wesen war, war der Teufel das zweithöchste, ausgestattet mit buchstäblich unheimlicher Macht, und der Mensch schwebte ständig zwischen Gott und dem Teufel.
Die Angst vor einem unzeitigen, unvorbereiteten Tod, ohne die Sterbesakramente, und damit die Angst vor der ewigen Verdammnis in der Hölle war also das eigentliche Problem. Das trieb den jungen Mönch ganz gewaltig um. Um seine (echten oder vermeintlichen) Sünden zu büßen, übte er strengste Askese. Er aß fast nichts, er schlief kaum, er arbeitete hart und brachte sich so an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs. So hoffte er, dem strengen, unerbittlichen Gericht Gottes zu entgehen und gerettet zu werden vor dem „ewigen Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln“, wie es im Gleichnis vom großen Weltgericht heißt.
Ich denke, es ist wichtig, sich das in wirklich grellen Farben auszumalen, diese Angst, dieses von unerträglicher Angst getriebene Leben. Nur so können wir ansatzweise verstehen, was für eine Erleichterung, was für eine Befreiung es gewesen sein muss, als Luther dann erkannte, dass Gott ihm das Heil gratis schenkt – gratis: also aus Gnade und Freundlichkeit, auf Latein gratia –, ohne dass er selbst irgendetwas dazu tun muss oder auch nur irgendetwas dazu tun kann. Diese Erkenntnis kam ihm über der Meditation eines Verses aus dem Römerbrief (Kapitel 1, Vers 17). Und sie war es, die zur Reformation führte. Denn diese Erkenntnis, dass wir allein aus Gnade, allein aufgrund der Freundlichkeit und Zuwendung Gottes gerechtfertigt sind, dass wir das Leben haben ohne unser eigenes Verdienst, ohne „Werke des Gesetzes“, diese Erkenntnis widerspricht dem Apparat, den die katholische Kirche damals darstellte: ein Apparat, mit dem und durch den die Menschen ihr Seelenheil erwirken können, durch den Empfang der Sakramente, durch Fasten, Wallfahrten, durch Beichte und Absolution, und auch durch Spenden, Gebühren für Seelenmessen und Ablassbriefe, mit denen man angeblich für sich selbst oder auch für schon verstorbene Verwandte die Zeit im Fegefeuer verkürzen konnte. Es war eine regelrechte Heilsindustrie, die Kirche mit ihrem Spendenwesen war eine riesige Finanzinstitution. All das hat Luther angegriffen und für unnötig erklärt, ja für ungültig, und damit hat er eine enorme Umwälzung der Verhältnisse in Gang gesetzt.
Die Erkenntnis, dass er sein Heil nicht selbst verdienen musste, bedeutete für den Mönch Martin Luder eine solch große Befreiung, dass er sich kurzzeitig umbenannte in Martinus Eleutherius, nach eleutheros, dem griechischen Wort für „frei“. Als er kurz darauf zu seinem Geburtsnamen zurückkehrte, behielt er das „th“ als Erinnerung an den Eleutherius bei und nannte sich also erst ab da Luther. Der freie Mensch.
Und nun sind wir endgültig beim Thema „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. So lautet der Titel einer kleinen Schrift Martin Luthers (jetzt schon mit „th“) aus dem Jahr 1520, also aus dem Jahr, in dem er seine reformatorische Lehre zum ersten Mal klar, bündig und verbindlich zusammengefasst und dargestellt hat. Es ist wirklich nur ein kleines Büchlein, eher ein Heft, 30 Thesen auf 11 Seiten (wenn man in Times New Roman 12 Punkt schreibt). In diesen 30 Thesen steckt die gesamte Botschaft der Reformation wie in einer Nussschale.
Gleich in der ersten These geht es in die Vollen:
„Erstens. Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist, und wie es um die Freiheit stehe, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Sankt Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Sätze aufstellen:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Fangen wir mit dem ersten Satz an: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Niemandem. Das klang in den Ohren vieler revolutionär – für die einen verheißungsvoll, etwa die Bauern, die unter der Leibeigenschaft litten und von den adeligen Herrschaften rücksichtslos ausgebeutet wurden. Für die anderen, etwa die adeligen Herrschaften bis hin zum Kaiser, aber auch für die Kirche, klang das eher bedrohlich: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Luther hat damit, ganz unbeabsichtigt und eigentlich sogar gegen seinen Willen, die Bauernaufstände und Bauernkriege mit befeuert. Dabei ging es Luther gar nicht um wirtschaftliche oder politische Freiheit.
Es ging ihm allein um das Seelenheil, um das Verhältnis zu Gott. So kommt er auch zu seiner Begründung. Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan – durch den Glauben. Denn der Glaube allein macht den Menschen vor Gott gerecht. Der Glaube allein lässt den Menschen vor Gott bestehen. Und alle frommen Werke, wie Wallfahrten, Fasten, Mönchsgelübde, Seelenmessen und so fort, nützen nicht nur nichts. Sie sind direkt gegen Gott gerichtet, denn mit diesen guten Werken meinen die Frommen, sich das Heil selbst verdienen zu können. Vor Gott gerecht wird aber nur, wer Gott die Ehre gibt, und die größte, vielleicht die einzige Ehre, die wir Gott geben können, ist die, dass wir seinem Wort glauben. Dem Wort des Evangeliums, das sagt: Christus hat deine Sünde auf sich genommen und schenkt dir im Austausch dafür seine Gerechtigkeit. „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein!“, wie es in einem Weihnachtslied heißt.
Hier zeigt sich das im Grunde noch mittelalterliche, feudalistische Gottesbild der damaligen Zeit. Gott muss unbedingt die Ehre gegeben werden. Die menschliche Seele muss „Gott für wahrhaftig, rechtschaffen und gerecht“ halten, „womit sie ihm die allergrößte Ehre erweist, die sie ihm erweisen kann. Da gibt sie ihm recht, da lässt sie ihm recht, da ehrt sie seinen Namen und lässt ihn mit sich handeln, wie er will; denn sie zweifelt nicht daran, dass er rechtschaffen und wahrhaftig sei in allen seinen Worten.“
Wer meint, selbst etwas zu seinem Heil tun zu können, entzieht Gott die Ehre und setzt sich selbst an Gottes Stelle – was nur in den Abgrund der Gottferne führen kann, in den ewigen Tod. Wer aber Gott die Ehre gibt, den ehrt auch Gott mit seiner Zuwendung, dem schenkt er – gratis, umsonst, allein aus Gnade – das ewige Leben. Diese Erkenntnis war für Martin Luther umstürzend und gab ihm ein ganz neues Verständnis von sich selbst und vor allem von Gott und von Gottes Liebe.
„Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war“, schreibt er später.
***
Nun machen wir einen großen Sprung, über 501 Jahr, in unsere Gegenwart. Vor zehn Tagen haben wir das Reformationsfest begangen, und in den Kirchen landauf, landab wurde das Wochenlied gesungen: Nun freut euch, lieben Christen gmein, EG 341. Geschrieben von Martin Luther 1523, eine bündige Zusammenfassung seiner neuen Theologie. Abgesehen davon, dass ich mir immer gern vorstelle, wie eine sonntägliche Gottesdienstgemeinde die erste Strophe wörtlich umsetzt: „…und lasst uns fröhlich springen…“ – abgesehen davon frage ich mich auch, wie ernst die Anwesenden es meinen, wenn sie dann die zweite Strophe singen:
Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren, mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hatt’ mich besessen.
Und dann in der dritten Strophe:
Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen musst ich sinken.
Ganz ehrlich: Wer hat denn heute tatsächlich noch diese Todesangst vor Hölle und Teufel? Wie weit verbreitet ist – auch in unseren christlichen Gemeinden – die Angst, in Gottes Gericht verurteilt zu werden und in der Hölle zu schmoren? Natürlich, es gibt bestimmte Gemeinden, da wird dieses Bild eines strafenden Gottes gepflegt und gepredigt, der alle unbarmherzig verstößt, die nicht in der richtigen Weise an ihn glauben. Aber die dürften weitaus in der Minderheit sein. Die Menschen, mit denen Sie es zu tun haben, dürften in der überwiegenden Mehrheit diesen Glauben nicht teilen, selbst wenn sie vielleicht noch mit einem traditionellen Bild vom strafenden Gott aufgewachsen und konfirmiert worden sein mögen.
Wie können wir also den Menschen die große Befreiung nahebringen, die doch die Grundlage unseres Glaubens ist – wenn die Angst, die zur befreienden Erkenntnis führte, gar nicht da ist?
Im Prinzip sehe ich drei Möglichkeiten:
Wir lassen das Ganze sein, reden nicht von Gnade und Liebe Gottes und Befreiung. Das ist eben etwas Mittelalterliches, das mit uns heute nichts mehr zu tun hat. Die Frage ist nur: Verlieren wir damit nicht etwas oder auch sehr viel, nämlich das Zentrum und die Grundlage unseres Auftrags?
Also könnte man eine zweite Möglichkeit versuchen: Wir bringen den Menschen die Höllenangst bei. Wir reden von einem unbarmherzigen Gericht, einem strengen Richtergott, wir malen das ewige Unheil in den schaurigsten Farben aus – und wenn sich dann tatsächlich jemand davon beeindrucken lässt und diese Angst entwickelt, dann kommen wir an und sagen: Aber du musst ja gar keine Angst haben, wenn du glaubst. Also bildlich, die Leute erst mal mit Dreck einreiben, um ihnen dann die Seife zu präsentieren. Ich halte diese Methode für äußerst fragwürdig, wie man sich vielleicht denken kann.
Die dritte Möglichkeit, die ich sehe, sieht so aus: Wir machen es wie Martin Luther und schauen dem Volk aufs Maul. Das heißt in diesem Zusammenhang, wir fragen uns, welche Ängste die Menschen heute umtreiben – uns selbst eingeschlossen. Es ist ja nicht so, dass die Menschen gar keine tiefen, existenziellen Ängste mehr haben. Und damit meine ich jetzt nicht Angststörungen mit Krankheitswert, sondern das, was auch ganz gesunde und psychisch stabile Menschen umtreibt – oft, ohne dass wir es selbst deutlich merken.
Das möchte ich einmal versuchen. Wovor haben Menschen heute Angst, was sind die tiefen Ängste, die oft ganz unbewusst unser Leben beeinträchtigen und die Menschen quälen?
Meine These dazu ist: Die tiefste Angst der Menschen ist, nicht bedeutsam zu sein. Wenn ich das, was ich in 40 Jahren Pfarrerdasein und in 15 Jahren Krisen- und Lebensberatung erfahren habe, auf einen Satz kondensieren sollte, würde ich es so sagen. Die tiefste Angst der Menschen ist, nicht bedeutsam zu sein. Wir brauchen es so nötig wie die Luft zum Atmen, dass wir für jemand anders Bedeutung besitzen. Dass uns jemand sagt: Gut, dass du da bist. Oder vielleicht: Ich brauche dich, aber viel besser noch: Ich liebe dich. Oder ganz einfach: Du bist mir wichtig – selbst wenn ich dich vielleicht gar nicht kenne und gerade zum ersten Mal sehe. Das ist der eigentliche Sinn der Arbeit, die Sie alle tun: Sie besuchen alte Menschen im Heim, mit denen Sie nicht verwandt sind und mit denen Sie auch sonst im Leben nichts zu tun hätten – damit vermitteln Siediesen Menschen vor allem, dass ihr Leben Bedeutung hat, für uns als Mitmenschen oder auch „nur“ als professionelle oder ehrenamtliche Helfer*innen, und im Tiefsten damit für Gott. (Klammer auf: Ich finde, es reicht, wenn wir diesen Glauben haben, dass der Mensch uns gegenüber für Gott bedeutsam ist; unser erstes Ziel ist nicht, dass die Menschen das auch glauben. Es wäre schön, wenn das am Ende herauskäme, aber für uns ist das Wichtigste, dass die Menschen sich gesehen, gewürdigt, eben: bedeutsam fühlen, Klammer zu.)
Das lässt sich durch alle anderen kirchlichen Arbeitsfelder durchbuchstabieren: Jugendliche werden im Grundkurs dazu ausgebildet, Verantwortung zu übernehmen. Einrichtungen und Gruppen schaffen Gemeinschaft mit und unter Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Gemeinden und Dienste bieten Unterstützung in Lebenslagen unterschiedlichster Art, damit die Menschen ihr Leben meistern können und die Erfahrung machen, dass sie mit ihrem Anliegen nicht allein sind.
Umgekehrt: Was machen Menschen nicht alles, um bedeutsam zu sein, für irgendjemand auf der Welt! Im Extrem sehen wir es auf Instagram und TikTok – je mehr Herzchen ich sammle, desto bedeutsamer bin ich. Aber auch im ganz normalen Alltag: Wie viele alte einsame Menschen gehen vor allem deswegen regelmäßig zum Arzt, weil sie dort gesehen werden, angesprochen werden, berührt werden – und somit für diesen Moment Bedeutsamkeit besitzen. Für viele Rentner (für mich zum Glück nicht!) ist der Eintritt in den Ruhestand, so sehr sie sich danach gesehnt und sich darauf gefreut haben, erst einmal ein Schock: Niemand interessiert sich mehr für mich, ich bin nicht mehr wichtig, ich bin ersetzbar und werde auch ersetzt. Dasselbe bei Trennungen oder wenn ein Partner stirbt: Bei aller Trauer und allem Schmerz um den Verlust stellt sich vielen Menschen dann die Frage: Für wen lebe ich denn eigentlich noch – und damit noch radikaler: Wozu lebe ich denn eigentlich noch?
Wir brauchen jemand, der uns das bestätigt: Du bist für mich bedeutsam. Denn das können wir uns offenbar nicht selbst sagen. Wir müssen es von außen gesagt bekommen. Und wir können es nicht selbst machen, wir können es erzwingen. Wer nach Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit giert und es allzu offensichtlich darauf anlegt, erntet oft das Gegenteil: Die Leute wenden sich ab und wollen mit einem solchen Menschen eher nichts zu tun haben. Bedeutsamkeit können wir uns nicht selbst geben. Wir sind Empfangende – und damit ist die Brücke geschlagen zu unserem evangelischen Glauben. Wir können es uns nicht selbst geben, aber wir bekommen es gratis.
Martin Luther fragte vor seiner umstürzenden reformatorischen Erkenntnis: Was muss ich tun, um vor Gott zu bestehen? Die Menschen heute fragen – wenn auch oft viel weniger bewusst: Was muss ich tun, um bedeutsam zu sein? Wie befreiend kann da die Auskunft sein: Du musst gar nichts tun. Du bist bedeutsam, einfach weil du bist. Weil du Gottes Geschöpf bist, sein Kind. Weil die unendliche Macht der Liebe will, dass du bist. Und das zeige ich dir, indem ich dir Aufmerksamkeit schenke.
Wir können uns nicht aus eigener Kraft bedeutsam machen – aber die gute Nachricht ist: Wir brauchen das auch nicht, weil wir für Gott unendlich bedeutsam sind. Ohne unser Zutun. Einfach weil Gott uns gut ist. Wenn es einem Menschen gelingt, daran zu glauben, kann die Bedeutsamkeit auch über sein physisches Ende hinausreichen. Denn wenn Gott ewig ist und wenn ich Gott unendlich wichtig bin, ist auch mein Leben in Ewigkeit geborgen.
***
Also, das Wichtigste für uns Menschen ist es, bedeutsam zu sein. Im Grunde ist der Verlust an Bedeutsamkeit so etwas wie der soziale Tod. Wenn ich für niemanden bedeutsam bin, bin ich so gut wie tot. Damit sind wir jetzt ganz nah bei der zweiten Angst. Einer Angst, die die Menschen zu allen Zeiten und auch heute umtreibt. Auch diese Angst ist den wenigsten bewusst, aber sie liegt vielem zugrunde, was wir tun: die Angst vor dem Tod. Die wenigsten Menschen fürchten sich zwar noch vor Hölle und Teufel, aber wir alle fürchten uns vor dem Ende unserer physischen Existenz. Und ich finde es immer wieder verwunderlich, wie wenig sich die Hoffnung oder die Gewissheit der Auferstehung von den Toten in unserem angeblich christlichen Abendland auswirkt. Wir haben ja ein sehr eigenartiges Verhältnis zu Tod und Sterben.
Die Leichen, die wir vom Vorabendprogramm bis in die späte Nacht im Fernsehen mitbekommen, sind kaum zu zählen. Tempolimits auf Autobahnen – eine der wichtigsten Maßnahmen, um tödliche Unfälle zu verhindern –, werden ausgebremst. Im Namen der Freiheit! Und das zahlreiche und vielfältige Sterben in anderen Teilen der Welt, das zum Teil direkt mit unserem Lebensstil zusammenhängt, blenden wir gerne einfach mal aus. Es sind ja immer die anderen, die sterben.
Dafür sind wir umso empfindlicher, wenn der Tod uns einmal persönlich auf die Pelle rückt, etwa wenn ein nahestehender Mensch ernsthaft erkrankt und es ans Sterben geht. Das muss nun um jeden Preis verhindert werden. Da werden oft alle Möglichkeiten der Intensivmedizin bis aufs Letzte ausgereizt, ohne Rücksicht darauf, welche Lebensqualität diese paar Tage oder Wochen dann haben, die wir dem Tod vielleicht noch abtrotzen. Die Palliativbewegung hat da in den letzten Jahren einiges verbessern können. Aber insgesamt ist in unserer Gesellschaft der Tod kein Thema, dem wir uns gerne stellen – oder dem wir uns auch nur mutig stellen. Das Sterben wird lieber ausgelagert ins Krankenhaus. Und viele haben aus den Erfahrungen in der Pandemie im letzten Jahr den Schluss gezogen, dass wir als Gesellschaft neu nachdenken müssen über das Sterben, über die Verlängerung des Lebens und über die Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen um jeden Preis.
Wie würden wir leben, wie würde unsere Gesellschaft mit Tod und Sterben umgehen, wenn wir frei wären von dieser Angst? Gut, frei werden wir davon vielleicht nie, sie ist uns angeboren und hat eine wichtige biologische Funktion. Also formuliere ich es so: Wie würden wir leben, wie würde unsere Gesellschaft mit Tod und Sterben umgehen, wenn wir uns nicht bestimmen ließen von dieser Angst? Wenn wir wüssten, dass wir tatsächlich nichts zu verlieren haben, weil wir im Sterben nur von einer Hand Gottes in die andere fallen?
Ich behaupte nicht, hier die richtigen Antworten parat zu haben. Ich möchte nur ein paar Beispiele anführen, wie es aussehen kann, wenn ein Mensch die Angst vor dem Tod verloren hat oder sich nicht mehr davon bestimmen lässt. Ich meine jetzt nicht die Selbstmordattentäter des IS oder von al Qaida, obwohl sie ein gutes Beispiel abgeben könnten, wozu ein Mensch fähig ist, der sich vor dem Tod nicht fürchtet, sondern sich darauf freut, weil er den Tod als Durchgang sieht in ein paradiesisches Leben, 70 Jungfrauen inklusive.
Ich erinnere lieber an unsere evangelischen Heiligen, Märtyrer wie Dietrich Bonhoeffer oder die Geschwister Scholl. Gerade was von ihren letzten Minuten berichtet wird, zeigt, wie der Glaube im Angesicht des Todes Mut und Ruhe geben kann, und damit eine ungeahnte Freiheit. Die letzten Worte Dietrich Bonhoeffers werden so überliefert: „Das ist das Ende. Für mich aber der Beginn des Lebens.“ Und über die letzten Minuten im Leben von Sophie Scholl schreibt ihre Schwester Inge Aicher-Scholl: „Da war diese wundersame Bereitschaft, mit der sich Sophie von ihrem Leben löste“, und ihr „strahlendes Lächeln, als schaue sie in die Sonne“. Und dann schreibt die Schwester vom „verklärten Angesicht Sophies in dieser Stunde, das noch einmal in seinen Jugendfarben seltsam schön und lebendig leuchtete“. Und vielleicht wissen Sie auch, was die letzten Worte von Hans Scholl waren: „Es lebe die Freiheit!“
Zugegeben, das sind Heldengeschichten, und es liegt mir fern, hier etwas zu romantisieren. Ich stelle mir aber die Frage: Wie würde unser Leben und unser Sterben aussehen, wenn wir etwas von dieser Gewissheit hätten – von dieser Freiheit, die aus dem Glauben kommt, und von der Überzeugung, dass wir eigentlich nichts verlieren, wenn wir das Leben in dieser Welt verlieren.
Dazu noch ein Beispiel, das ganz am Anfang schon angeklungen ist: Am Abend des 9. Oktober 1989 gingen Zehntausende in Leipzig auf die Straße, es war der Anfang vom Ende der DDR. Diese Menschen hatten vielleicht nicht die Angst vor dem Tod verloren. Immerhin hatte die chinesische Führung nur ein halbes Jahr vorher auf dem Tiananmen-Platz die Protestbewegung mit Panzern rücksichtslos niedergewalzt. Und es war nicht sicher, ob Stasi und Regierung nicht einen Tiananmen-Moment schaffen würden, ob die Situation nicht in einem Massaker enden würde. Aber die Angst bestimmte nicht mehr das Leben der Menschen. Wut und Verzweiflung waren größer – und auch die verwegene Hoffnung, dass es anders kommen würde als in Peking. Deshalb waren die Menschen in Leipzig an diesem Abend schon frei – freier vielleicht, als sie nach dem Fall der Mauer einen Monat später jemals werden konnten.
Daraus ergibt sich für mich eine Frage, die eben schon angeklungen ist: Wie würde der Umgang mit der Corona-Pandemie aussehen in einer Gesellschaft, die wirklich auf christlichen Fundamenten steht? Das heißt eine Gesellschaft, in der die Menschen mit der Angst vor dem Sterben anders umgehen können, weil sie davon ausgehen, dass der Tod ein Übergang ist in ein neues Leben? Das ist für mich eine echte Frage und ich weiß, es gibt keine einfachen Antworten darauf. Aber es hat mich in den letzten 18 Monaten immer wieder beschäftigt. Wie hätte es in den Altersheimen, in den Pflegeheimen ausgesehen, wenn wir den Tod nicht nur als das Ende sehen würden, als das Ende aller Möglichkeiten, das Ende aller Wahl und aller Freiheit?
Wie gesagt, ich habe keine einfachen Antworten auf diese Frage. Aber wir müssen sie uns stellen, das ist meine Überzeugung – um die Freiheit zu gewinnen, die Freiheit eines Christenmenschen, der aus der Gewissheit lebt, dass Gott ihm gut ist, ganz gleich, was geschieht.
Wenn wir im Glauben davon ausgehen können, dass der Tod ausgespielt hat, dass er eine Tür ist, kein schwarzes Loch, dass er einen Doppelpunkt setzt, keinen Schlusspunkt – dann haben wir die Freiheit wiedergewonnen. Das bedeutet nicht, dass wir nun leichtfertig umgehen wollen mit Leben und Sterben. Wir können uns aber leichteren Herzens der Gewissheit stellen, dass dieses Leben – ja, mein Leben – auf jeden Fall ein Ende haben wird, früher oder später. Und bis es so weit ist, können wir leben in der Freiheit, die aus der Geborgenheit dieses Glaubens kommt.
***
Eigentlich sind wir jetzt am Schluss angelangt, allerdings: Manche oder mancher von Ihnen wird bemerkt haben, dass der zweite Grund-Satz aus der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ bisher gar nicht vorgekommen ist:
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Ich gehe darauf nur noch ganz kurz ein. Zum einen, weil die Zeit vorangeschritten ist, zum anderen aber aus inhaltlichen Gründen. Also:
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan – durch die Liebe, schreibt Luther. So wie wir frei sind durch den Glauben, sind wir einander untertan durch die Liebe. Untertan – eine sperrige Formulierung, aber ich denke, Sie wissen, was gemeint ist. Wir können es auch mit einem Satz aus dem Neuen Testament ausdrücken: „Dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“ – das ist ja gewissermaßen auch eine Überschrift über das, was Sie in der Altenheimseelsorge tun. Dass wir als Christenmenschen nicht unserer eigenen Bequemlichkeit und unserem eigenen Ego dienen sollen, sondern den Mitmenschen, das gehört zu den Grundlagen unserer Arbeit und unserer Existenz, ob hauptberuflich oder ehrenamtlich. Darüber, so könnte ich mir vorstellen, haben die meisten von uns auch viel mehr nachgedacht und daran haben wir uns viel mehr orientiert als an der Freiheit, die uns geschenkt ist und in der wir leben dürfen. Deswegen nehme ich mir die Freiheit, das mit der Liebe jetzt quasi nur noch nebenbei zu erwähnen. Es gehört als Gegengewicht unbedingt dazu, wenn wir über die Freiheit sprechen – aber ich glaube, wir haben es umgekehrt eher nötig: Die Freiheit als Gegengewicht zum Dienen, zum Dienst am Nächsten. Da möchte ich gerne ein Zitat von Georg Danzer aus dem Lied „Die Freiheit“ („Nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein“) etwas abwandeln: „Nur in Freiheit kann die Liebe Liebe sein.“ Stellen wir den ersten Satz also wieder dazu:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.
Für mich heute heißt das: Die Gewissheit des Glaubens,
dass Gott mir gut ist,
dass mir nichts geschehen kann, egal was geschieht,
dass mein Leben bedeutsam ist – nicht, weil ich so toll bin, sondern weil ein liebender Wille auf mich blickt und mich trägt,
diese Gewissheit kann uns frei machen von der Angst um unser eigenes Leben. Wenn uns das gelingt, sind wir wirklich frei. Wir haben die Freiheit gewonnen, die Freiheit eines Christenmenschen, die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
Von November 1982 bis September 1985 war ich als Pfarrer z.A. an der Dreifaltigkeitskirche in Schongau in Oberbayern – meine erste Pfarrstelle. In diesem Jahr wurde die Kirche renoviert und – hübsche Idee – die Gemeinde hat eine Reihe Pfarrpersonen, die mal dort tätig waren, eingeladen, einen Gottesdienst zu halten bzw. im Gottesdienst zu predigen. Ich war am Reformationsfest, 31.10.2021 dran. Der Predigttext war „zufällig“ (was einem eben so zufällt) einer meiner Lieblingstexte aus der Bibel: Galater 5. Hier also meine Reformationspredigt. (Für die Überschrift danke ich Helmut Frank vom Sonntagsblatt, der meinen Artikel zum Reformationstag mit diesen Worten auf der Titelseite angekündigt hat.)
Galaterbrief, Kap. 5, Verse 1 – 6: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Liebe Gemeinde,
dieser Satz gehört für mich zu den wichtigsten und schönsten in der ganzen Bibel, sozusagen zur eisernen Ration. Die ganze christliche Botschaft finde ich darin zusammengefasst. Zu Freiheit hat euch Christus befreit! Nutzt diese Freiheit, gebt sie nicht freiwillig wieder auf!
Aber wer wird denn so etwas wollen, seine Freiheit aufgeben? Schön blöd wären wir da doch, oder?
In den Gemeinden in Galatien, in der heutigen Türkei, scheint genau das passiert zu sein. Paulus hatte ihnen die Überzeugung mitgegeben, dass sie keinerlei Voraussetzungen erfüllen müssten, um Gott recht zu sein. Dann aber waren Abgesandte aus Jerusalem gekommen, die eine andere Einstellung hatten. Ja, Gott ist uns gut, sagten sie, aber nur, wenn wir zum auserwählten Volk gehören. Und wer zu Gottes Volk gehören will, zu seiner Familie, wer das ewige Leben haben will, der muss das Gesetz einhalten, wie es in den Büchern Mose niedergelegt ist. Die Beschneidung, von der Paulus spricht, steht dabei stellvertretend für das ganze Gesetz, also etwa die Reinheitsvorschriften und Ernährungsregeln der Hebräischen Bibel. Doch das Gesetz, sagt Paulus, führt nur höchst theoretisch zu Gott – nämlich dann, wenn ein Mensch es ganz und gar und zu hundert Prozent einhält, in jeder Sekunde seines Lebens. Das ist keinem Menschen möglich. Wer es aus eigener Kraft versuchen will, wird scheitern, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Nun gehe ich davon aus, dass hier in diesem Kirchenraum wohl kaum jemand sitzt, für den das ein großes Problem wäre. Es wird sich kaum jemand Gedanken darum machen, dass er – als Mann – nicht beschnitten ist. Oder der sich überlegt, wie er oder sie koscheres Essen zubereiten oder die übrigen Reinheitsgebote aus dem Ersten Testament einhalten kann.
Ist das Thema damit erledigt? Wir haben kein Problem mit dem Gesetz des Mose, alles klar also: Klappe zu, Affe tot, Thema gegessen. Wenden wir uns drängenderen Problemen zu.
Nun, ganz so einfach ist es nicht. Natürlich, die wenigsten Menschen heute haben Angst, Gott nicht zu genügen. Wir haben gerade ein Lied von Marin Luther gesungen, in dem er seine Angst und seine Befreiung beschrieben hat:
Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren. Mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hatt’ mich besessen.
Und:
Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen musst ich sinken.
Hand aufs Herz: Könnt ihr diese Sätze aus vollem Herzen nachvollziehen? Ich hoffe nicht, und ich glaube das auch nicht. Selbst unter Christinnen und Christen ist diese Angst heute nicht mehr weit verbreitet – Gott sei Dank! Denn Gott ist keiner, der uns Angst machen will. „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und Besonnenheit“, sagt ein bekannter Bibelvers – ein zu Recht bekannter Bibelvers.
Aber das heißt ja nicht, dass die Menschen unserer Tage keine Angst kennen, dass wir vollkommen frei wären. Die meisten Menschen haben keine Angst mehr vor Gott und seiner Strafe. Es sind andere, ganz tiefe Ängste, die oft ganz unbewusst das Leben beeinträchtigen und die Menschen quälen.
Die tiefste Angst der Menschen ist nach meiner Erfahrung die Angst, nicht bedeutsam zu sein. Das klingt erst einmal etwas sperrig und vielleicht nicht so aufs erste Hören nachvollziehbar: Die tiefste Angst der Menschen ist, nicht bedeutsam zu sein. Ich will erklären, was ich meine.
Wir Menschen brauchen natürlich jeden Tag etwas zu essen und zu trinken, wir brauchen ein Dach über dem Kopf, wir brauchen Luft zum Atmen. Aber das ist noch lange nicht alles. Noch etwas anderes brauchen wir so nötig wie die Luft zum Atmen. Nämlich, dass uns jemand sagt: Gut, dass du da bist. Ich brauche dich, oder viel besser noch: Ich liebe dich. Oder ganz einfach: Du bist mir wichtig. Das müssen wir gesagt bekommen, nicht unbedingt mit Worten. Aber das brauchen wir, dass wir für jemand wichtig sind.
Was machen Menschen nicht alles, um wichtig zu sein, bedeutsam, für irgendjemand auf der Welt! Im Extrem sehen wir es auf Instagram und TikTok – je mehr Herzchen ich sammle, desto bedeutsamer bin ich. Aber auch im ganz normalen Alltag: Wie viele Menschen gehen vor allem deswegen regelmäßig zum Arzt, weil sie dort gesehen werden, weil sie angesprochen und auch berührt werden – und somit für diesen Moment Bedeutsamkeit besitzen. Für viele Rentner (für mich zum Glück nicht!) ist der Eintritt in den Ruhestand, so sehr sie sich danach gesehnt und sich darauf gefreut haben, erst einmal ein Schock: Niemand interessiert sich mehr für mich, ich bin nicht mehr wichtig, ich bin ersetzbar und werde auch ersetzt.
So ist es auch bei Trennungen oder wenn ein Partner stirbt. Bei aller Trauer und allem Schmerz um den Verlust stellt sich vielen Menschen dann die Frage: Für wen lebe ich denn eigentlich noch – und damit noch radikaler: Wozu lebe ich denn eigentlich noch?
Wir brauchen jemand, der uns das bestätigt: Du bist für mich bedeutsam. Dass du da bist, macht einen Unterschied. Ja, es ist gut, dass du da bist. Denn das können wir uns offenbar nicht selbst sagen. Wir müssen es von außen gesagt bekommen. Wir können das nicht selbst machen, wir können es nicht erzwingen. Wer nach Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit giert und es allzu offensichtlich darauf anlegt, erntet oft das Gegenteil: Die Leute wenden sich ab und wollen mit einem solchen Menschen eher nichts zu tun haben. Bedeutsamkeit können wir uns nicht selbst geben. Wir sind Empfangende – und damit ist wieder die Brücke geschlagen zu unserem evangelischen Glauben. Wir können es uns nicht selbst geben, aber wir bekommen es gratis.
Martin Luther fragte vor seiner umstürzenden reformatorischen Erkenntnis: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Was muss ich tun, um vor Gott zu bestehen? Die Menschen heute fragen – wenn auch oft viel weniger bewusst: Was muss ich tun, um bedeutsam zu sein? Denn das können wir uns nicht selbst geben. Wir können uns nicht aus eigener Kraft bedeutsam machen.
Aber die gute Nachricht ist: Wir brauchen das auch nicht, weil wir sowieso schon unendlich bedeutsam sind. Ohne unser Zutun, einfach so. Weil wir sind.
Das ist die Gute Nachricht, um die sich alles dreht in der Bibel: Dein Leben ist – du selbst bist unendlich bedeutsam. Weil du Gottes Geschöpf bist, sein Kind. Weil die unendliche Macht der Liebe will, dass du bist, weil Gott sich in dir spiegelt, weil Gott im tiefsten Grund deiner Seele wohnt – ob du das nun weißt und glaubst oder nicht.
Wenn es einem Menschen gelingt, daran zu glauben, kann die Bedeutsamkeit auch über das Ende seines physischen Daseins hinausreichen. Denn wenn Gott ewig ist und wenn ich Gott unendlich wichtig bin, ist auch mein Leben in Ewigkeit geborgen.
Das ist die Botschaft, die wirklich frei macht. Mir kann nichts geschehen, egal, was geschieht – weil ich Gottes Kind bin, weil ich Gott am Herzen liege. Weil Gott mich liebt mit einer unendlichen, unaussprechlichen Liebe.
Das Einzige, was Not tut, um diese Liebe zu erfahren, ist: Wir müssen sie uns gefallen lassen. Wir müssen sie annehmen. Mit den Worten des Paulus: Wir müssen es glauben. Natürlich, wenn mir jemand sagt: „Ich liebe dich!“, und ich glaube es nicht, dann wird das nichts mit unserer Liebe. Dann kann es keinen vertrauten, innigen Austausch geben zwischen uns. Dann regiert eben nicht die Liebe, sondern die Gleichgültigkeit. Also, wir müssen es glauben. Wieder so ein zentrales Wort.
„In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“, schreibt Paulus den Gemeinden in Galatien. Dieser Glaube nun ist wiederum keine Leistung, die wir vollbringen müssen. Es geht dabei nicht um irgendein Tun, eher um ein Lassen. Es gehört dazu, dass wir es uns gefallen lassen. Dass wir unsere Versuche sein lassen, uns selbst wichtig zu machen. Es uns sagen lassen: Du bist geliebt.
Du bist geliebt.
Mit all deinen Eigenheiten und Macken. Mit deinen Fehlern und mit deiner Schönheit. So wie du bist.
Wer sich das sagen lässt, wer hineinwächst in diese Zusage und sich verwandeln lässt, wird frei. Frei von der Angst, nicht zu genügen. Frei von der Angst, niemand zu sein.
Du bist geliebt.
Wenn dieser Satz tief in uns eindringen kann, dann kann er uns verwandeln. Dann kann er auch uns zur Liebe bewegen. Wer sich geliebt weiß, wird frei, anderen Liebe zu geben.
Dazu noch ein paar Sätze zum Schluss. Die Liebe, um die es hier geht, ist kein rosarotes Gefühl. Sie muss nicht einmal etwas mit Sympathie zu tun haben. Ich muss meinen Nächsten nicht mögen, wenn ich ihm Nächstenliebe erweisen will. Notwendig ist dazu nur, dass ich den anderen als Menschen sehe, mit Bedürfnissen, mit Ängsten, mit Nöten. Und das nehme ich ernst und versuche, so gut ich kann, dieser Person zu helfen. In ihren Bedürfnissen, in ihren Ängsten, in ihrer Not.
Dann kann eine Beziehung entstehen und, wenn es gut geht, vielleicht sogar Sympathie, und dann haben wir beide etwas davon.
So gehören beide untrennbar zusammen: Die Freiheit und die Liebe. Die Freiheit, die aus der Gewissheit kommt, dass ich ein geliebtes Kind Gottes bin – und die Liebe, die aus der Gewissheit kommt, dass auch mein Gegenüber ein geliebtes Kind Gottes ist.
„Zur Freiheit hat Christus uns befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in jesus, dem Christus, der Liebeserklärung Gotte an uns.
„der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ – dieser Vers aus dem Lukasevangelium könnte durchaus als Über-schrift dienen für die Münchner Insel, in der ich nun 15 Jahre lang gearbeitet habe. An diesem Programm, „zu suchen und zu retten, was verloren ist“, ist die Insel seit ihren ersten Tagen beteiligt. Obwohl, um genau zu sein, „suchen“ wir Insulanerinnen und Insulaner die Verlorenen nicht, die Insel hat, wie man heute sagt, eine Komm-Struktur. Die Menschen, die Verlorenen, müssen also erst einmal zu uns kommen. Und das tun sie auch. In unserer Krisen- und Lebensberatungsstelle bekommen wir tagtäglich mit, wie viel Verlorenheit, wie viele verlorene Menschen es in unserer Stadt gibt. Ob wir sie alle „retten“ können, mag man bezweifeln. Aber die Insel bietet allen, die kommen, ein offenes Ohr, weiterführende Fragen, Rat und Hilfe, manchmal auch Konfrontation und Korrektur, eine neue und viel-leicht ungewohnte Perspektive.
Im Kapitel 15 des Lukasevangeliums, aus dem wir vorhin das Gleichnis von den zwei Söhnen gehört haben, stehen zwei weitere Gleichnisse vom Verlorenen, und die sind heute als Predigttext auf-gegeben. Ich möchte sie beide mit euch anschau-en, bevor ich mich dann etwas ausführlicher dem sogenannten Verlorenen Sohn zuwende.
Da ist zum einen das Gleichnis vom verlorenen Groschen, es geht so:
„Wie ist es, wenn eine Frau zehn Silbermünzen hat und eine davon verliert? Zündet sie da nicht eine Lampe an, kehrt das ganze Haus und sucht in allen Ecken, bis sie die Münze gefunden hat? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: ‚Freut euch mit mir! Ich habe die Münze wiedergefunden, die ich verloren hatte.‘ Ich sage euch: Genauso freuen sich die Engel Gottes über einen einzigen Sünder, der umkehrt.“
Zwei Aspekte an dieser kleinen Geschichte möchte ich kurz beleuchten. Zum einen: Die Aktivität liegt ganz bei der Frau. Die Münze hat sich verschlupft, wie man sagt, und nun liegt sie ein-fach irgendwo herum. Gott, der durch die Frau im Gleichnis symbolisiert wird, ist der Suchende, der verlorene Mensch kann gar nichts dazu tun, dass er gerettet wird. Das ist einerseits wunderbar – wir müssen selbst überhaupt nichts tun. Das ist Evangelium, das ist gute Nachricht pur. Und trotzdem rührt sich bei uns postmodernen Menschen, die sich so viel auf ihre Selbständigkeit einbilden, vielleicht ein bisschen Protest. Bin ich denn ein Gegenstand, den man verlieren und wiederfinden kann? Ich denke, damit verfehlen wir die Pointe. Die Pointe des Gleichnisses besteht wohl wirklich darin, dass wir nichts tun müssen und auch nichts tun können, um Gottes Liebe zu erfahren – außer uns die Liebe Gottes gefallen zu lassen. Das allerdings ist schwer genug…
Und das Zweite: Jesus hat überhaupt kein Problem damit, Gott durch eine Frau zu symbolisieren. Bei Jesus hatte die Abwertung der Frauen, wie sie alte und neue Patriarchen für richtig hielten und leider immer noch halten – bei Jesus hatte die Abwertung der Frauen keine Chance. Bei Jesus hatten Frauen als Schülerinnen dieselbe Rolle wie die Männer. Nach dem Thomasevangelium, das nicht in der Bibel steht, aber wohl aus dem 1. Jahrhundert stammt wie die biblischen Evangelien, hat Jesus seine Schülerin und Freundin Maria Magdalena sogar als seine Meisterschülerin behandelt, die seine Botschaft besser begriffen hat als die Männer. Wie modern ist das denn! Gut, dass wir wenigstens in der evangelischen Kirche heute ganz selbstverständlich Pfarrerinnen haben.
– Musik –
Das zweite Gleichnis geht so: „Angenommen, einer von euch hat hundert Schafe, und eins davon geht ihm verloren. Lässt er da nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voller Freude auf seine Schultern und trägt es nach Hause. Dann ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ‚Freut euch mit mir! Ich habe das Schaf wiedergefunden, das mir verloren gegangen war.‘ Ich sage euch: Genauso wird im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“
Rudolf Bohren, Professor für Praktische Theologie während meiner Studienzeit, soll einmal eine Predigt über diesen Text angefangen haben mit den Worten: „Liebe Gemeinde, ihr seid Schafe. Schafe sind dumm. Ihr seid dumm.“
Das haut rein. Ihr seid, wir sind dumme Schafe. Nun gut, wenn wir uns mit Gott vergleichen, mit dem Kosmischen Christus, der alles, was ist, von innen und außen kennt – und auch alles kennt, was nicht ist, aber sein könnte… – wenn wir uns also mit Gott vergleichen, sind wir völlig unwissend, dumm wie Bohnenstroh. Wir handeln kurz-sichtig und haben den Überblick nicht, wir rennen in jede Falle, die sich bietet, und verlaufen uns ständig. Das können wir getrost akzeptieren.
Aber in einer Hinsicht wird das Bild schräg. Dann nämlich, wenn ihr, die Gemeinde, die dummen Schafe sein sollt und wir, die Pastoren – das lateinische Wort für Schäfer – wenn wir Pfarre-rinnen und Pfarrer also die Klugen wären, die den Überblick haben und den dummen Gemeindeschafen zeigen, wo’s lang geht.
Ich bin froh, dass bei uns in Süddeutschland der Ausdruck „Pastor“ nicht gebräuchlich ist. Denn als Hirte kann und mag ich mich nicht verstehen, als Hirte, der den Überblick hat und die dummen, unwissenden und verblendeten Mitmenschen auf den richtigen Weg führt. Ich habe meinen Beruf als Pfarrer immer so verstanden, dass ich Menschen helfe, ihren eigenen Weg zu finden. Ich bin Be-gleiter und vielleicht einer, der Menschen ermutigt, der manche Dinge ermöglicht, der den Menschen hilft, zu ihrer Stärke und Schönheit zu finden. Und ich muss sagen, das hat was.
– Musik –
Jetzt aber zum dritten und längsten und bekanntesten Gleichnis, das von den zwei Söhnen oder dem sogenannten Verlorenen Sohn. Vermutlich kennen es die meisten von euch, haben es zumindest einmal gehört. Anderen mag es so vertraut sein, dass sie es schon gar nicht mehr hören können.
Ich habe es natürlich auch hunderte Male gehört, und früher habe ich es meistens so gehört: Dieser junge Mann, der ist undankbar und unmoralisch, ein Sünder eben. Vielleicht nicht gerade erzböse, aber er geht den falschen Weg, das auf jeden Fall. Er verlässt seinen guten Vater und verprasst dessen Vermögen. Aber Hochmut kommt vor dem Fall, er muss seine Lektion lernen, und schließlich bereut er und sieht ein, dass er alles verkehrt gemacht hat. Und dann nimmt ihn der Vater unverdientermaßen wieder auf, aus Gnad und lauter Güte.
Eine Zehntklässlerin im Gymnasium Schongau hat mich auf den Trichter gebracht, dass dieses Gleichnis vielleicht noch etwas ganz anderes aussagt. Als ich ankündigte, dass wir uns mit diesem Text beschäftigen, stöhnte sie und sagte: „Schon wieder! Was soll das! Jetzt wollen Sie uns wieder mal sagen, wie lieb und wie toll Gott ist. Das ist doch nichts Besonderes! Jeder Vater würde sein Kind doch in die Arme schließen, wenn es nach Hause kommt, egal wie verdreckt und verlottert. Mein Vater würde das jedenfalls tun.“
Ich musste Susi Recht geben. Also begann ich ganz neu über diese Geschichte nachzudenken. Und ich entdeckte einiges. Zum Beispiel: Der junge Mann tut eigentlich genau das, was ein junger Mensch tun muss. Er verlässt sein Elternhaus und geht seinen eigenen Weg. Das ist gut und richtig so. In der Münchner Insel hatte ich immer wieder Frauen sitzen, deren erwachsene Söhne es einfach nicht aus dem Hotel Mama herausschafften. Die sich noch mit 40 Jahren von der Mutter bekochen und die Wäsche waschen ließen. Diese Männer haben eine wichtige Lebensaufgabe nicht gemeistert, sie sind keine selbständigen Menschen geworden.
Das kann man unserem jungen Mann nicht vorwerfen. Und dass er sich sein Erbe vorzeitig aus-zahlen lässt, ist sein gutes Recht. Gut, er geht etwas unklug damit um – aber wer möchte es ihm verdenken! Er feiert und lässt es sich gut gehen – die vergangenen anderthalb Jahre haben uns gelehrt, was jungen (und nicht nur jungen) Menschen fehlt, wenn sie das nicht können: feiern und es sich gut gehen lassen.
Unklug ist er, ja, das sicher. Im Übermut verschleudert er seine Reserven. Und dann kommt der Absturz. Wenn er heute in München lebte, käme er jetzt vielleicht in die Insel. Was habe ich für abgestürzte Menschen erlebt – abgestürzt teils aus Leichtsinn und Übermut, teils ganz ohne ei-genes Verschulden. Das Leben hält so viele Möglichkeiten bereit, abzustürzen!
Vielleicht würde sich in ihm während des Gesprächs in der Insel diese Idee formen: Wie wäre es, wenn ich nach Hause ginge? Nein, unmöglich! Wie stehe ich denn dann da! Vielleicht fragt der Berater dann: Wie würde das denn wohl aussehen, wenn Ihr Problem mit Ihrem Vater gelöst ist? Oder er würde vielleicht fragen: Wenn Sie zu Ihrem Vater gehen würden – was wäre denn das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte? Und der junge Mann würde überlegen. Vielleicht würde dieses Gespräch scheinbar ergebnislos enden und der Berater würde sich fragen, was aus dem jun-gen Mann wohl geworden ist, der einmal da war und nie wieder aufgetaucht ist. Aber vielleicht würde das Gespräch weiterwirken, vielleicht würde sich der junge Mann am nächsten oder über-nächsten Tag sagen: Ich riskiere es. Mehr als abweisen kann er mich nicht, mein Vater. Und die Geschichte würde einen guten Ausgang nehmen, ohne dass wir jemals davon hören.
Wahrscheinlich haben nicht alle Geschichten aller Menschen, denen ich in der Insel begegnet bin, einen so guten Ausgang genommen. Das haben wir nicht in der Hand. Letztlich ist es eben doch Gott, das Große Ganze, die Tiefe der Welt – ist es Gott, der oder die die verlorenen Groschen findet und den dummen verirrten Schafen nachgeht und sie rettet. Wie Gott das tut, können wir getrost ihr oder ihm überlassen. Oft wird es anders aussehen, als wenn wir das selbst planen und umsetzen würden. Und doch will Gott uns dabeihaben, uns Beraterinnen und Berater in der Münchner Insel und euch alle, jede und jeden Einzelnen von euch, in euren Lebensbezügen und in euren Beziehungen und bei den Menschen, mit denen ihr zu tun habt.
Im Grunde ist die Geschichte von dem jungen Mann eine ganz normale Lebensgeschichte: Einer bricht auf, lebt, scheitert, fängt neu an. Und wenn man genau hinschaut, fällt auf, dass Jesus keinerlei Bewertung vornimmt. Er tadelt den jungen Mann mit keiner Silbe, aber auch den älteren Bruder tadelt er nicht(über den gäbe es noch einiges zu erzählen, aber das würde heute zu weit führen). Er bewertet einfach keinen der Menschen, von denen er erzählt, und auch nicht ihre Handlungen.
Und so möchte ich zum Schluss noch einen etwas verwegenen Gedanken wagen. Ich glaube, man kann diese Geschichte sogar lesen als die Geschichte des Christus selbst. Er, der in allem Gott gleich war, wie Paulus im Philipperbrief schreibt, bricht auf, geht in die Fremde, feiert mit den Menschen – immerhin bezeichnen ihn seine Gegner als „Fresser und Weinsäufer“. Er verschleudert das Vermögen seines Vaters – die göttliche Liebe – und er landet im Dreck. Hier allerdings geht es ein bisschen anders weiter: Er erniedrigt sich selbst, wie Paulus sagt. Und da, in der tiefsten Tiefe, schlägt die Geschichte um. Aus der Tiefe, aus dem Tod am Kreuz, wächst neues Leben, wächst die neue enge Gemeinschaft mit Gott, dem himmlischen Vater, der himmlischen Freundin. Und weil Christus selbst diesen Weg gegangen ist, sind wir niemals mehr allein. Nicht im Schweinekoben, nicht in der äußersten Einsamkeit und Krankheit, nicht im Augenblick unseres Sterbens.
Das ist der Kern der Botschaft, die ich in meinen vierzig Jahren als Pfarrer gelernt und weitergegeben habe, so gut ich eben konnte. Und das ist die Basis, auf der ich in der Münchner Insel furchtlos und mit Zuversicht (jedenfalls meistens) die Arbeit mit leidenden, verzweifelten, abgestürzten Menschen tun konnte.
Und darin liegt der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, unserem Bruder, der mit uns unterwegs ist auf den Straßen unseres Lebens. Amen.
– Musik –
Die Musik von Gudrun Friederike Lehn (Blockflöten und Schlagwerk) gehört eigentlich zur Predigt, kann hier aber leider nicht dargestellt werden.
Auf allen möglichen Kanälen habe ich auf mein neues Buch hingewiesen, nur nicht in meinem eigenen Blog… Wahrscheinlich macht das nichts, weil alle meine Follower auf WordPress schon auf anderen Wegen von diesem Buch erfahren haben dürften. Aber trotzdem möchte ich es doch endlich auch hier offiziell anzeigen.
Die Dreieinigkeit Gottes, Christus als Gottes Sohn, Schöpfung, Sünde und Erlösung: antiquierte Begriffe, von denen ein modernes Christentum sich verabschieden muss? Ganz im Gegenteil – ich bin überzeugt, dass gerade diese so sperrig erscheinenden Dogmen erstaunliche Kraft entfalten können, wenn sie zeitgemäß interpretiert werden. Sie müssen auf die Denkvoraussetzungen des 21. Jahrhunderts bezogen werden, die von Relativitätstheorie und Quantenphysik, von Psychoanalyse und Globalisierung geprägt sind. So gewinnen die traditionellen Kernaussagen des christlichen Glaubens neue Strahlkraft. Und genau darum geht es in diesem Buch.
Wer auf die Schnelle mehr erfahren möchte, dem lege ich diese sehr ausführliche, kluge, in Teilen durchaus auch kritische, aber überwiegend zustimmende Rezension von Giannina Wedde ans Herz: https://www.klanggebet.de/blog/kritisches/
Weitere Rezensionen finden sic bei Amazon oder auch hier:
Gottesdienst in St. Markus, München, am 10. Januar 2021
Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.
Liebe Gemeinde,
was ist Gottesdienst? Was für eine Frage! Das ist doch klar, vorhin habe ich es ausdrücklich formuliert: „Wir hören Worte aus der Bibel, wir singen und beten und teilen gemeinsam die große Hoffnung.“ Und in Zeiten, in denen das möglich ist, kommt noch dazu: „…und wir teilen miteinander das Mahl der Versöhnung.“
Also, Gottesdienst, das ist die Versammlung einer gewissen Schar von Christen, von Glaubenden oder Suchenden, meistens am Sonntag, meistens am Vormittag, eine Stunde oder anderthalb. Musik, Lesungen, Gebete, Lieder, eine Predigt, eine Abendmahlsfeier.
Auch Martin Luther sagt es ähnlich. Im Gottesdienst geschehe nichts anderes, „denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“
Soweit alles klar.
Und gleichzeitig spricht Paulus in dem Abschnitt aus dem Römerbrief, den ich eben gelesen habe, noch von etwas ganz anderem: „Ich ermahne euch nun … dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“
In der Neuen Genfer Übersetzung, die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde, hört sich das folgendermaßen an: „… dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf.“
Dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt.
Das ist starker Tobak. Mit dem ganzen Leben. Auf der anderen Seite: Welche Teile unseres Lebens würden wir Gott denn nicht so gern zur Verfügung stellen?
Der katholische Theologe Fridolin Stier berichtet von einem Traum, in dem Gott zu ihm in seine Studierstube kommt. Stier ist – im Traum – höchst erschrocken und fragt: „Was willst du?“ Die Antwort besteht aus einem einzigen Wort. „Dich!“
Mich will Gott, und dich und dich. Ganz. Mit Haut und Haar. Mein ganzes Leben und dein ganzes Leben.
Gruselt es dich da ein bisschen bei diesen Worten? Dann kann es sein, dass dir ein falsches Bild von Gott nahegebracht wurde.
Ich leihe mir ein Bild von Jesus, eins, das er oft und gern gebraucht hat: das von Braut und Bräutigam. Wünscht sich die Braut nicht, vom Bräutigam gewollt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar? Sehnt sich der Bräutigam nicht danach, von seiner Braut begehrt zu werden, ganz und gar, mit Haut und Haar?
Von Martin Luther stammt auch dieses Bild: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“ Und diese Liebe, diese glühende, verzehrende Liebe, die will uns ergreifen.
Und seltsam, vielen wird bei dieser Vorstellung ein bisschen mulmig: dass die glühende, verzehrende Liebe mich ergreifen will, mich durchstrahlen, mich ausglühen, mich in Flammen setzen.
Wer bin ich denn? So mag sich manche und mancher fragen. Wer bin ich denn, dass ich so eine große Liebe verdient hätte?
Nun, verdient hast du die Liebe Gottes ebenso wenig oder ebenso viel wie ein Kind die Liebe seiner Eltern verdient. So ein Neugeborenes macht ja nichts als Arbeit – es weckt die Eltern zu nachtschlafender zeit, es schreit, es will gefüttert, gewickelt, gewiegt und angesprochen werden. Es kann gar nichts machen – außer in die -windeln, und das bedeutet wieder Arbeit für die Eltern. Und trotzdem – wenn alles gut verläuft – lieben die Eltern ihr Kind wie verrückt. Einfach, weil es da ist und weil es ihr Kind ist.
So ist es mit Gott und uns. Gott liebt uns mit einer unbegreiflichen, glühenden Liebe, einfach, weil wir da sind. Weil wir Gottes Kinder sind.
Unser ganzes Leben Gott zur Verfügung stellen, das heißt als Allererstes, dass wir uns Gottes Liebe gefallen lassen. Dass wir es uns sagen lassen: Dein Leben ist unendlich sinnvoll, du bist unendlich geliebt, in allem, auch im Schwersten, umhüllt dich Gottes Liebe. Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht. Auch wenn in deinem Leben vieles daneben geht. Auch wenn du an Covid erkrankst. Auch wenn dir liebe Menschen genommen werden, wenn du den Job verlierst, wenn du einsam bist: In all dem bist du dennoch geliebt, und nie, nie bist du allein. Denn Gott sitzt nicht selig irgendwo weit weg im Himmel. Gott ist dir immer nahe, näher als du dir selbst bist. Mag sein, dass du davon nichts spürst. Mag sein, dass du dich fragst: Wo ist er denn, Gott? Warum greift er nicht ein? Lass dir sagen: Gott ist bei dir, in dir, um dich, und mit dir gemeinsam trägt Gott die Lasten, die du zu tragen hast.
Es mag Zeiten geben, da spürst du die große Liebe Gottes, oder du hast eine Ahnung davon. Dein Leben erscheint dir in einem anderen Licht. Im Licht dieses glühenden Backofens.
Und vielleicht ist es gerade dieses Licht, das dich zurückschrecken lässt. Ich soll mich, mein ganzes Leben, Gott zur Verfügung stellen? Mit anderen Worten: Ich soll mein ganzes Leben der Liebe zur Verfügung stellen?
Da wird mir bewusst, wie viel in meinem Leben ist, was mir selbst gar nicht liebenswert vorkommt. Wie soll das denn gehen? Es gibt so vieles in mir und an mir, das ich selbst nicht leiden kann. Was ich lieber verstecke, vor den anderen und am liebsten vor mir selbst.
Ich glaube, das ist das größte Hindernis für die Liebe: die Scham und die Angst, die aus der Scham folgt. Die Scham sagt: ich bin es doch gar nicht wert. Ich bin schwach, oft bin ich gemein zu meinen Mitmenschen, ich bin egoistisch, zwiespältig, unzuverlässig.
Und Gott sagt: Egal. Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Das, was Jesus bei seiner Taufe gehört hat, das gilt für uns alle: Du und du und du bist Gottes geliebtes Kind.
Deswegen gibt es nichts, was wir vor Gott verstecken müssten. Es gibt nichts, das Gott nicht versteht, was Gott nicht annimmt. Es gibt nichts, was Gott nicht gebrauchen kann.
Dietrich Bonhoeffer, Theologe und Widerstandskämpfer im Dritten Reich, hat geschrieben:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will“, und: „Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
Nur deswegen können wir dem Rat des Paulus folgen und daran gehen, unser ganzes Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Das geht nicht auf einen Schlag, bei niemandem. Es ist ein lebenslanger Lernprozess. Ein Prozess, in dem wir nach und nach, wenn es gut geht, all unsere vermeintlich guten und all unsere vermeintlich miesen Seiten dem Licht der Liebe Gottes aussetzen können. Und das ist unser wahrer Gottesdienst: dass wir uns lieben lassen mit Haut und Haar, mit unseren Schatten und Flecken ebenso wie mit allem, was gut und wahr und schön ist an uns.
Und so kann das mit der Liebe weitergehen.
„Stellt euch nicht dieser Welt gleich“, sagt Paulus. Dieser Welt, in der nur das Strahlende, das Schöne, das vermeintlich Starke zählt. „Erneuert euren Sinn“, schreibt Paulus, „auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ Und das ist nicht das, was uns wohlgefällt, nicht das, was uns gut und vollkommen erscheint. Sondern das, was Gott als gut und vollkommen erklärt. Was Gott, der glühend Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel, als gut und vollkommen erklärt.
Du magst dir selbst schlecht und unvollkommen vorkommen. Das ist Gott egal. Gott sieht deine Möglichkeiten, nicht nur deine Wirklichkeit. Das ist der Sinn des Satzes, den Jesus so oft gesagt hat: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Nicht was dir misslungen ist, soll dein Leben bestimmen. Sondern das, was in dir angelegt ist. Deswegen kannst du jeden Tag neu anfangen, und das sei dein vernünftiger Gottesdienst.
Noch zwei Gedanken zum Schluss. Erstens: Wenn Gott dich und mich in all unserer Zwiespältigkeit so sehr liebt, dann ist die Folge, dass auch wir versuchen dürfen, unsere Mitmenschen mit Gottes Augen zu sehen. Dann sehen wir in ihnen nicht das Schwache und Gemeine, sondern die strahlende Schönheit der Kinder Gottes. Das geht auch nicht von heute auf morgen, auch das ist ein lebenslanger Lernprozess. Gerade die, die so anders sind als wir, sind notwendig, damit der Leib vollständig ist. Das Auge ist kein Fuß und der Zeigefinger ist nicht der Magen – aber alle sind notwendig, gerade in ihrer Verschiedenheit. Diversität ist ein Stichwort, das dieser Tage groß geschrieben wird. Hier, bei Paulus, haben wir es schon.
Und das zweite: Wenn unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, wozu dient dann diese Veranstaltung hier am Sonntagvormittag in der Kirche (oder auch am Dienstagabend, wie der Musikgottesdienst)? Ich denke, sie hat einen zweifachen Sinn. Zum einen ist sie das Familientreffen der Kinder Gottes. Hier treffen wir uns und vergewissern uns, dass wir zusammengehören, in unserer ganzen Diversität. Und zum anderen ist dieser Gottesdienst der Ort, an dem wir uns das immer wieder sagen lassen können, jede Woche wieder: Dass Gott uns liebt, dass unser Leben nicht vergebens ist, dass Gott an unserer Seite ist, um uns herum und in unserem Herzen. Weil wir vergesslich sind, brauchen wir diese Zusage immer wieder.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, unserem großen und liebenden Bruder. Amen.
Predigt in St. Markus, München, am 3. Advent, 13.12.2020
Liebe Gemeinde,
heute gibt es erst einmal eine ungehaltene Predigt. Das heißt, ich sage Ihnen kurz, was ich heute eigentlich vorhatte, in der Predigt zu sagen.
Ich wollte über Johannes den Täufer sprechen und über Jesus. Ich wollte Ihnen sagen, wie die beiden für jeweils unterschiedliche Formen von Spiritualität stehen: der eine – Johannes – für die Drohbotschaft: „Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“
Und dagegen Jesus, der die Frohbotschaft verbreitet. „Schaut die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Von Jesus, der körperlich und sozial Aussätzige heilte. Von Jesus, der den Leuten ungefragt die Sünde vergab und ihnen sagte: „Du kannst neu anfangen, unbelastet von den Fehlern und Verletzungen der Vergangenheit.“
Ich wollte zeigen, dass das daran liegt, dass die Spiritualität von Johannes und Jesus sich sozusagen um 180 Grad unterscheiden: Johannes vertritt eine nach oben gerichtete Spiritualität. Was muss ich tun, um Gott nahe zu kommen, um Gott recht zu werden? Er fastet, meditiert, lebt als Eremit in der Wüste, und seine Botschaft ist streng und unerbittlich. „Ihr Otterngezücht, ihr Schlangenbrut!“
Jesus dagegen vertritt die umgekehrte Richtung. Seine Spiritualität ist nach unten orientiert. Er verkündigt den heruntergekommenen Gott – mehr noch, er verkörpert den heruntergekommenen Gott. Er sagt: Du musst Gott nicht nahe kommen, du kannst das auch gar nicht, denn Gott ist dir schon nahe – näher als dein eigenes Herz. Du kannst aufhören, dich um dich selbst, um dein Seelenheil, um deinen eigenen Vorteil zu drehen, denn dafür ist gesorgt. Du kannst dich öffnen für deine Mitmenschen und für das Große Ganze, das wir Gott nennen.
Und ich wollte das noch ein bisschen ausziehen auf die spirituelle Szene heute innerhalb und außerhalb der Kirchen.
Das wäre zweifellos reizvoll gewesen, aber diese Predigt werden Sie heute nicht zu hören bekommen.
Denn gestern auf meinem Predigtspaziergang kam mir plötzlich der Gedanke: Wie kann ich über unterschiedliche Spiritualitäten parlieren, während zur selben Stunde die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten seit 10 Uhr an ihren Bildschirmen sitzen und höchstwahrscheinlich Maßnahmen beschließen, die dazu führen, dass dieses Weihnachten das seltsamste und für manche das einsamste Weihnachten wird, an das sie sich erinnern können? Und selbst wenn es nicht zum ganz harten Lockdown kommen sollte – in ein paar Stunden wissen wir mehr – so lohnt es sich doch, aus diesem Anlass einmal darüber zu reden, was Weihnachten denn eigentlich für ein Fest ist.
Kurz gesagt:
Weihnachten ist ein Familienfest.
Weihnachten ist kein Familienfest.
Wie? Was stimmt denn nun?
Nun, wie so oft: Beides stimmt. Ich möchte Ihnen sagen, wie ich das meine.
Erstens: Weihnachten ist ein Familienfest. Na klar, was denn sonst! Es gibt sicher keinen anderen Tag, an dem so viele Familienmitglieder zusammenkommen. Das ganze Land fällt in eine Art Winterschlaf, für zwei, drei Tage sind alle Geschäfte zu. Viele machen sich auf, reisen quer durch die Republik, um für diesen einen Abend oder für ein paar Tage ihre Eltern, Kinder, Geschwister und auch die verrückte alte Tante und den ungeliebten Onkel zu treffen.
Es scheint so eine Art menschliches Urbedürfnis zu sein, dass wir uns wenigstens einmal im Jahr unserer Familie vergewissern. Dass wir zusammenkommen, die alten Geschichten aufwärmen, die alten Rituale begehen und, ja, auch immer wieder die alten Kriegsbeile ausgraben. Und das ist auch gut und richtig so, wir brauchen das.
Aber: Es ist nicht das Eigentliche von Weihnachten. Denn zweitens: Weihnachten ist kein Familienfest.
Oder sagen wir es anders. Auf Jesus können wir uns nicht berufen mit unserer Betonung der Familie. Natürlich, Mutter, Vater, Kind im Stall – das ist sozusagen das Urbild der Familie und es ist kein Wunder, dass ausgerechnet das Weihnachtsfest so zum Familienfest wurde.
Aber Jesus war kein Familienmensch. Von Jesus sind solche Geschichten überliefert: Als er beginnt, öffentlich zu predigen, kommt seine Familie, Mutter und Brüder, und wollen ihn zurückholen in die Familie. „Er spinnt“, sagen sie, „er ist verrückt geworden.“
Als Jesus davon erfährt, sagt er: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und er sieht sich um, zeigt auf die, die um ihn im Kreis sitzen und ihm lauschen, und sagt: „Das hier, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Oder dies hier: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ Wobei man über das Wort, das Martin Luther mit „hassen“ wiedergibt, auch noch ein paar Worte verlieren müsste. Es geht nicht um ein negatives Gefühl, um eine Aversion. Es geht darum, mit den Familienbanden zu brechen, sich herauszulösen um eines größeren Zieles willen.
Die Familie ist alles? Nein, Jesus würde diesen Satz nicht unterschreiben.
Aber sei’s drum. Es ist das eine, zu wissen, dass wir uns mit unseren Familientraditionen nicht auf Jesus berufen können. Und das andere ist, dass wir Menschen sind und unsere urmenschlichen Bedürfnisse haben. Und deswegen kehre ich wieder zu Erstens zurück: Weihnachten ist ein Familienfest.
Und das soll uns nun verdorben werden. Die Zahl derer, die sich treffen dürfen, wird sehr gering ausfallen und auch, wenn sicher nicht die Polizei am Vierundzwanzigsten um 19 Uhr vor der Tür steht und nachzählt – so werden die Vorschriften höchstwahrscheinlich ausfallen, über die gerade verhandelt wird.
Und was macht nun jemand, der aus diesem Grund in diesem Jahr an Weihnachten allein sein muss? Gerade für Menschen, die sonst sehr viel allein sind, kann das Weihnachtsfest unter normalen Umständen eine Gelegenheit sein, einmal aufzutanken im Kreis von anderen. Das fällt dieses Jahr flach, wie auch praktisch alle Feiern für Einsame und allein Lebende, die sonst etwa von manchen Kirchengemeinden veranstaltet werden.
Was also tun?
Zunächst einmal: Vielleicht kann ich mir dieses Jahr noch gezielter überlegen: Wer in meiner Umgebung, meiner Nachbarschaft wird wohl dieses Weihnachten auch allein verbringen? Kann ich mich mit einem dieser Menschen nicht doch verabreden – vielleicht sogar für eine gemeinsame Stunde am Weihnachtsbaum, oder, wem das aus welchen Gründen auch immer zu heikel erscheint – für einen Spaziergang? Oder kann ich mich mit ein, zwei, drei Menschen gezielt zu einem langen Telefonat verabreden?
Einen Versuch könnte das wert sein, meine ich. Und wenn das alles nicht geht?
Mein Vorschlag ist nicht originell und trifft im Grunde auf alle schwierigen und schmerzlichen Situationen zu, in die wir geraten und die wir nicht ändern können. Er ist im Grunde ganz simpel und doch sehr schwer umzusetzen:
Wenn wir etwas nicht ändern können, ist es weise, es anzunehmen. Sich nicht dagegen zu sträuben und die Abwehr dagegen fallen zu lassen. Es ist nicht schön, aber es ist das, was jetzt ist. Solange ich mit der Situation hadere, mich innerlich dagegen wehre und ankämpfe, vergeude ich meine Energie.
Je besser es gelingt, Ja zu sagen zu dem, was ist, desto eher kann ich kreativ mit der Situation umgehen. Ja sagen, das heißt nicht, dass ich die Situation auf einmal toll und wunderbar finden muss. Die Situation ist nicht in Ordnung. Aber vielleicht kann ich sagen: Es ist in Ordnung, dass es so ist.
Und dann kann ich versuchen, einmal dem inneren Sinn des Weihnachtsfestes nachzuspüren. Ich kann mit ein paar Kerzen anzünden, mir selbst die Weihnachtsgeschichte vorlesen, vielleicht das Weihnachtsoratorium hören oder eine CD mit schöner Weihnachtsmusik. Ich kann mir eine Liedstrophe vornehmen, etwa „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt. Ich kann die Augen schließen und versuchen, mich mit allen inneren Sinnen an diese Krippe zu begeben, das Kind zu betrachten, das in mir geboren werden will, mich für den Frieden zu öffnen, den der Friedefürst bringt.
Und dann kann ich für mich selbst mein Lieblingsessen kochen, ganz bewusst, trotz- und alledem und jetzt erst recht. Und dann ein Buch lesen, etwas im Fernsehen anschauen – wie sonst auch eigentlich, aber mit dem inneren Versuch, Ja zu sagen zu der Situation, die ich nicht ändern kann.
Das sollen keine Durchhalteparolen sein. Ich möchte Sie aber anregen, das, was auf uns zukommt, anzunehmen als die Realität, die nun einmal ist, wie sie ist. Und vielleicht hilft Ihnen der Gedanke ein kleines bisschen, dass es zwar gut und schön und wichtig ist, eine Familie zu haben und mit ihr zu feiern. Aber für Weihnachten ist das eigentlich nicht das Entscheidende. Das Entscheidende formuliert Paul Gerhardt so: „So lass mich nun dein Kripplein sein. Komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, dem Friedefürsten. Amen.