Zur Zukunft der Kirche nach der Postmoderne
Vortrag bei der Konferenz der Theologischen Fakultät Riga mit der Luthergemeinde Riga zum Theme „Kirche am Scheideweg“, 4. März 2022

Erstens: Die Kirche muss sich ändern.
Warum? Hier einige Gedanken dazu:
Menschen entwickeln sich, auch die Gesellschaft entwickelt sich. Diese Entwicklung bedeutet vielfache Veränderungen, im Verhalten, in den Einstellungen, sicher auch in der Spiritualität und in der Art und Weise, wie sich diese Spiritualität ausdrückt.
Es gibt ein Modell, das diese Entwicklung beschreibt. Es geht davon aus, dass die Entwicklung einer bestimmten Gesetzmäßigkeit folgt und in abgrenzbaren, beschreibbaren Phasen verläuft. Wenn ich einige dieser Phasen hier kurz vorstelle, muss ich um Verständnis bitten – es muss wegen der Kürze der Zeit alles sehr holzschnittartig und verkürzt sein. Trotzdem werde ich versuchen, die Phasen, die für unsere Fragestellung relevant sind, kurz zu skizzieren. Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, können Sie in diesem Buch „Gott 9.0“ (lettisch: Dievs 9.0) nachlesen, das ich vor zwölf Jahren mit einem befreundeten Ehepaar zusammen verfasst habe.
1. Bewusstseinsräume
Ich werde im Folgenden nicht von Phasen sprechen, sondern von Bewusstseinsräumen. Menschen, so ist die These, bewegen sich in ihrer Entwicklung jeweils von einem Bewusstseinsraum in den nächsten. Und zwar dann, wenn sich die Lebensbedingungen ändern, entweder die äußeren Lebensbedingungen oder auch die inneren. Wenn die Lösungen, die ein Bewusstseinsraum für die Fragen des Lebens vorhält, nicht mehr angemessen sind, geschieht Entwicklung in den nächsten Raum. Dieser neue Bewusstseinsraum legt sich gewissermaßen um den vorherigen wie ein neuer Jahresring bei einem Baum. Der neue Raum ist somit weiter und umfassender.
Was im Moment noch sehr abstrakt klingen mag, sollte deutlicher werden, wenn ich die einzelnen Bewusstseinsräume beschreibe.
1.1 Der vormoderne oder traditionelle Bewusstseinsraum
Menschen mit einem solchen Bewusstsein legen Wert auf Ordnung, sie fühlen sich wohl mit eindeutigen Spielregeln und klaren Hierarchien. Religion ist hier ein klar gegliedertes System: Gott, eindeutig männlich gedacht, ist der himmlische König, der über allem thront. Er regiert die Welt. Er hat Gesetze erlassen, an die wir uns halten müssen. Wenn wir gegen die Gesetze verstoßen, sind wir Sünder und haben Strafe verdient. Aber Jesus Christus hat die Strafe am Kreuz auf sich genommen, deswegen vergibt uns Gott. Die Bibel ist Gottes Wort, das man zu glauben hat. Die Wunder sind genauso geschehen, wie es in den Evangelien geschildert wird.
Die Liturgie unseres lutherischen Gottesdienstes spiegelt dieses traditionell-vormoderne Bewusstsein weitgehend wider; die lutherische Kirche in Deutschland und, soweit ich weiß, auch in Lettland, ist teilweise noch sehr stark in diesem Bewusstseinsraum zu Hause.
Aber viele Bereiche der Gesellschaft und viele Individuen haben sich aus diesem traditionell-vormodernen Bewusstsein herausentwickelt. Sie sind in die Moderne eingetreten.
1.2 Der moderne oder rationale Bewusstseinsraum.
Die Moderne stellt das Individuum, seine Vernunft und sein Gewissen in den Mittelpunkt. Das Maß aller Dinge ist jetzt nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Die Naturwissenschaften spielen eine zentrale Rolle. Die Wundergeschichten der Bibel werden nicht mehr wörtlich geglaubt, weil sie den Naturgesetzen widersprechen. Überhaupt hat die Religion hier einen schweren Stand. Atheismus, zumindest aber Agnostizismus, wird zu einer oft gewählten Option. Bezeichnend für diesen Bewusstseinsraum ist etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776: Zu den grundlegenden, selbst-evidenten Menschenrechten gehört das (individuelle) Streben nach Glück. Das wäre in einer traditionellen, vormodernen Gesellschaft nicht so selbstverständlich.
Dass sich Menschen in diesem Bewusstseinsraum schwertun mit der traditionell-vormodern verfassten Kirche, ist kein Wunder. Dennoch behalten nicht wenige in diesem Raum ihre spirituelle Praxis weiter bei. Es ist, als ob sie in ihrem modernen, rationalen Bewusstsein eine Kammer ausgespart hätten für die vormoderne Tradition. Die gibt ja immerhin so etwas wie Heimat.
Doch andererseits: Dieses moderne, rationale Bewusstsein ist zumindest in der wissenschaftlichen Theologie vorhanden und auch in allen kirchlichen Reformbestrebungen, die auf mehr Effizienz und Performance setzen.
Hier bleibt die Entwicklung aber nicht stehen. Es folgt eine Phase, die oft als postmodern bezeichnet wird, teilweise auch als spätmodern.
1.3 Der postmoderne oder spätmoderne Bewusstseinsraum
Denn nun werden die Grenzen der Vernunft erkannt und die Probleme, die ein rein rational ausgerichtetes Denken und Handeln mit sich bringt – etwa die Zerstörung der Umwelt oder die Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen und Völker im Interesse des eigenen wirtschaftlichen Vorteils. Es geht nun um Zusammenarbeit, um Gleichberechtigung, um Inklusion. Minderheiten werden wahrgenommen und erhalten ihre Rechte. Das Recht des Stärkeren ist nicht mehr bestimmend, man sucht das Beste für alle, und man sucht es im Diskurs und strebt dabei nach Konsens und Harmonie.
Die Menschen orientieren sich nicht mehr nur nach außen wie im vorherigen Bewusstseinsraum, die Reise geht nach innen. Spiritualität wird wieder entdeckt. Oft wird sie in Gegensatz gebracht zu Religion. Religion wird erlebt als starr, formalistisch, gesetzlich und verknöchert. Spiritualität dagegen wird gesehen als Raum der lebendigen Erfahrung. Meditation und Kontemplation werden wichtig. Konfessionelle Grenzen spielen keine Rolle mehr – die ökumenische Bruderschaft Taizé ist ein gutes Beispiel. Auch die Grenzen zwischen den Religionen werden eingeebnet, spirituelle Praktiken aus allen möglichen Religionen werden ausprobiert: heute Sufi-Tanz, morgen Zen-Meditation, übermorgen Kundalini-Yoga.
In der Europäischen Union, kann man vermuten, lebt etwa ein Viertel der Bevölkerung in diesem postmodernen Bewusstseinsraum, in der Lutherischen Kirche dürfte der Prozentsatz vielleicht geringer sein. Aber soviel ich weiß, spielt gerade in der Luthergemeinde hier in Riga dieses postmoderne Bewusstsein eine große Rolle.
1.4 Probleme des Übergangs
Was geschieht nun, wenn Menschen sich aus einem Bewusstseinsraum heraus und in den nächsten hinein entwickeln? Sie müssen sich Lebensumstände im Äußeren suchen oder schaffen, die der inneren Entwicklung entsprechen. Konkret heißt das: Wenn sich jemand aus dem traditionellen Bewusstsein ins moderne Bewusstsein entwickelt, kann er mit traditionellen Formen nicht mehr so viel anfangen. Jemand, der sehr modern empfindet, denkt und lebt, wird sich etwa von dem traditionellen, vormodernen Gottesdienst nicht mehr angezogen fühlen – mit Ausnahme der Menschen, die sich diese traditionelle Kammer für ihre religiöse Seite bewahrt haben. Aber auch diese Kammer ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Wer dann in den postmodernen Bewusstseinsraum eintritt, für den sind die traditionellen Formen noch weiter entfernt. Wenn es gutgeht, findet ein solcher Mensch dann eine Gemeinde, in der postmodernes Empfinden seinen Platz hat. Eine Gemeinde, in der Kontemplation und Meditation gepflegt wird, in der Inhalte nicht nur gepredigt werden, sondern Diskurse auf Augenhöhe stattfinden und so weiter.
1.5 Der integrale Bewusstseinsraum
Die Sache wird nun noch ein bisschen komplexer. Etwa seit der Jahrtausendwende zeigt sich ein weiterer Bewusstseinsraum, der den postmodernen übersteigt oder umgreift. Manche sprechen von der Metamoderne, meistens wird dieser Bewusstseinsraum aber das integrale Bewusstsein genannt. Integral deswegen, weil es in diesem Raum möglich ist, scheinbar widersprüchliche Ideen und Phänomene zu integrieren. Es wird möglich, das Paradox auszuhalten – mehr noch: Es wird erkennbar, dass oft nur paradoxe Aussagen die Wirklichkeit in ihrer Komplexität angemessen beschreiben können. Das beste Beispiel ist die Natur des Lichts: Je nachdem, welches Messverfahren angewendet wird, stellt sich das Licht entweder als immaterielle Welle dar, die sich nach allen Seiten gleichmäßig im Raum ausbreitet, oder als Strom von Partikeln, die man gerne mit winzigen Billardkugeln vergleicht. Analog zu dieser naturwissenschaftlichen Paradoxie lassen sich nun auch gesellschaftliche Prozesse oder theologische Aussagen als Paradox auffassen. Dies auszuführen wäre einen eigenen langen Vortrag wert, hier fehlt leider die Zeit dazu.
Eine wichtige Eigenschaft dieses integralen Bewusstseinsraums will ich aber noch erwähnen. Von hier aus ist es möglich, alle vorherigen Bewusstseinsräume als notwendig zu akzeptieren. Menschen stehen an unterschiedlichen Stellen in der Entwicklung und brauchen deshalb auch unterschiedliche Sozialformen oder unterschiedliche spirituelle und religiöse Angebote. Während etwa ein Mensch im traditionellen Bewusstsein alles Moderne und Postmoderne als häretisch abtut, kann das integrale Bewusstsein erkennen und akzeptieren, dass dieser Mensch eine vormoderne, mythische Religiosität braucht. Denn die unterschiedlichen Bewusstseinsräume mit ihren spezifischen Formen haben ihre Berechtigung. So ist es, zumindest theoretisch, möglich, unterschiedlichste Kirchen und Gemeinden und ihre jeweiligen Traditionen in eine Gesamtkirche zu integrieren, in der alle zu ihrem Recht kommen.
Aus dieser Perspektive ist auch Entwicklung etwas Selbstverständliches und Unausweichliches. Und es kommt darauf an, Entwicklung nicht nur passiv zu erleiden, sondern aktiv zu gestalten.
2. Entwicklung
Ich möchte jetzt speziell auf die mögliche Entwicklung der Kirche eingehen. Hier sehe ich grundsätzlich zwei verschiedene Weisen von Entwicklung: Translation und Transformation. Die Unterscheidung stammt von Ken Wilber und wurde ursprünglich in einem etwas anderen Kontext geprägt, aber ich finde, sie passt sehr gut als Beschreibung für zwei Arten von Entwicklungsprozessen, der die Kirche sich unterziehen kann.
2.1 Translation
Translation bedeutet, wörtlich genommen: Einen Inhalt in eine andere Sprache zu transferieren.
Laut Ernst Lange, einem deutschen Praktischen Theologen der 1960er- und 70er-Jahre, ist die Kernaufgabe der Kirche die „Kommunikation des Evangeliums“. Diese Beschreibung ist in sich schon eine Translation, denn „Kommunikation“ heißt nicht einfach „Predigen“. Kommunikation ist etwas Wechselseitiges, ein Dialog, in den ich das Evangelium als eine Position einbringe. Und Kommunikation besteht nicht nur aus Worten. Auch unsere Handlungen sprechen, unsere Gottesdienstformen, die liturgischen Gesten, die Musik, ebenso wie die Angebote in unserem Gemeindehaus.
Translation bedeutet also zu einen, verbal eine neue Sprache zu finden. Neue Bibelübersetzungen, Liturgiereformen und Bemühungen um zeitgemäße Formulierungen in Gebeten und sonstigen liturgischen Texten.
Translation kann sich zum anderen aber auch auf den Gottesdienst beziehen, auf sozialdiakonisches Handeln und ebenso auf die Organisation Kirche als Ganze.
Es gibt ja schon vieles, was man in diese Kategorie einordnen könnte. Um der Krise der Kirche zu begegnen, werden alle möglichen translativen Anstrengungen unternommen. Angefangen bei den kirchlichen Strukturen: Gemeinden werden zusammengelegt, Pfarrstellen gestrichen, Kirchen oder Gemeindehäuser aufgegeben, es werden Teampfarrämter gebildet, regionale Kooperationen. Da machen nicht mehr alle Pfarrer mehr oder weniger dasselbe, sondern die einzelnen Teammitglieder nehmen je nach ihren Stärken und Interessen unterschiedliche Aufgaben wahr. So einschneidend manche solcher struktureller Veränderungen sein mögen, sie ändern nichts an der grundlegenden Verfasstheit der Kirche.
Dasselbe gilt für die Translation auf Ebene der Gemeindearbeit. Da gibt es – zumindest in Deutschland – in den meisten Gemeinden alle möglichen Ansätze. Viele Kirchengemeinden haben die Notwendigkeit erkannt, ihr Gemeindeprofil zu modernisieren, ihre Aktivitäten den Bedürfnissen der Zeitgenossen anzupassen und neue Wege der kirchlichen Arbeit zu erproben. Es gibt das sogenannte „zweite Gottesdienstprogramm“, es gibt alle möglichen Formen von Gruppenangeboten, Online-Angebote und Social-Media-Aktivitäten.
Das sind alles gute und wichtige Ansätze, die ja auch an vielen Orten mit viel Liebe und Herzblut umgesetzt werden. Je nachdem, wie gut die Umsetzung gelingt, werden durchaus auch neue Zielgruppen erreicht, Menschen werden angesprochen, die sich bisher nicht zur Gemeinde gehalten haben. Menschen, die sich in weitere Bewusstseinsräume hinein entwickelt haben, können wieder Anschluss finden.
Insgesamt aber bleibt die Struktur der kirchlichen Arbeit unangetastet. Hier ist die Gemeinde, mit Kirche und Gemeindehaus als Zentrum, der Pfarrer spielt die tragende Rolle. Das heimliche oder auch offen ausgesprochene Ziel ist meistens, dass doch mehr Menschen für den traditionellen Sonntagsgottesdienst gewonnen werden oder sich zumindest im Gemeindehaus und im Dunstkreis der Kirchengemeinde aufhalten.
Und noch eine weitere Beobachtung: Bei den meisten dieser Versuche liegt eine Vorstellung von Drinnen und Draußen zugrunde: Wir sind hier, in der Kirche, und wir haben hier etwas, was wir den Menschen geben wollen – das Evangelium oder eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen. Diese Weltsicht wollen wir den Menschen „da draußen“ vermitteln. Wenn sie schon nicht zu uns hereinkommen, sollen sie doch wenigstens unsere Botschaft hören und annehmen.
Fresh Expressions of Church
Allerdings ändert sich hier allmählich etwas. Am deutlichsten wird mir das bei der Bewegung „Fresh Expressions of Church“, kurz FreshX – eine Bewegung, die aus England kommend jetzt auch in Deutschland für neuen Wind sorgt. Aus der Vielzahl der Initiativen wähle ich eher zufällig einige aus.
St. Andrew’s Fulham Fields
Das Gemeindeleben in St. Andrew’s im westlichen London lag wohl ziemlich am Boden, als Guy Wilkinson als Pfarrer dort anfing. Er begann mit einigen einschneidenden Änderungen. Er ließ das feste Kirchengestühl herausreißen und einen warmen Parkettboden verlegen. In den Eingangsbereich wurde ein mehrgeschossiger Einbau aus Glas gesetzt, der unten ein Café und oben Büros beherbergt. Und die Gemeindearbeit wurde gründlich umgekrempelt: Sonntags findet in der Kirche ein High Church Service mit voller anglikanischer Liturgie statt, unter der Woche aber treffen sich Kindergruppen im Kirchenraum. Die Eltern, die ihre Kinder abholen, sitzen im Café und kommen auf diese Weise selbst in Kontakt mit der Gemeinde. Für ältere Jugendliche werden Hausaufgabenhilfe und Abitur-Vorbereitung angeboten, am Samstag gibt es Essen für Obdachlose – alles im umgestalteten Kirchenraum. Und noch etwas: Jede Woche gehen die beiden Pfarrer der Kirche zu Fuß durch den Gemeindebezirk, erkennbar durch ihre Collarhemden, und sind ansprechbar. Auf diese Weise halten sie Kontakt zu ihren Gemeindegliedern und erfahren direkt, was diese bewegt.
Cornerstone Church Cranbrook
Ganz anders und doch ähnlich ging Mark Gilborson im Neubaugebiet Cranbrook in Exeter im Südwesten Englands vor. Dort hatte der Investor, der das Gelände bebaute, zunächst keine Kirche vorgesehen. So taten sich verschiedene christliche Denominationen zusammen, um ein ökumenisches Gemeindeprojekt zu gründen. Ein Jahr lang gab es keine Gottesdienstangebote. Stattdessen ging der Pfarrer von Tür zu Tür, ausgestattet mit Stofftaschen, in denen sich Kekse, ein Busfahrplan und andere nützliche Kleinigkeiten befanden. So führte er ein ganzes Jahr lang nur Gespräche mit den Einwohnern, um deren Bedürfnisse kennenzulernen. Als Folge setzte sich die Gemeinde etwa für eine neue Buslinie ein, die zum nächsten größeren Einkaufszentrum führte. Der Investor oder die Verkehrsgesellschaft hatten einfach übersehen, dass die Menschen ja einkaufen müssen.
Was die geistlichen Aktivitäten angeht, trafen sich anfangs nur die engsten Mitarbeiter wöchentlich zum Gebet. Nach einem Jahr wurde der erste Gottesdienst angeboten, in der Schule. Einmal im Monat ist „messy church“, ein Kinder- und Familiengottesdienst, bei dem es laut und bunt zugeht. Und alle zwei Monate sieht der Gottesdienst noch einmal ganz anders aus: Statt einer liturgischen Feier veranstaltet die Gemeinde eine Aktivität zum Wohl der Einwohner: Man geht gemeinsam Müll aufsammeln oder bietet an, Autos zu waschen… Es geht darum, den Menschen zu dienen. Soviel ich weiß, haben sie bis heute kein Kirchengebäude errichtet.
St. Paul’s Hounslow
In der Kirche in Hounslow nahe dem Flughafen Heathrow wird wochentags Kaffee ausgeschenkt, wie in St. Andrew’s einfach im Kirchenraum. Arme (aber auch weniger Arme) bekommen dort ein günstiges Mittagessen, die Gemeinde betreibt eine intensive Kinderarbeit, veranstaltet regelmäßig Alpha-Kurse. An sich nichts Spektakuläres. Ich führe dieses Beispiel an, weil mich die Begründung der Pfarrerin so angesprochen hat. „Die Menschen müssen spüren, dass hier etwas für sie geschieht. Sie müssen merken, dass das, was gepredigt wird, für ihr tägliches Leben Bedeutung hat. Sie sind erst dann offen für das Evangelium, wenn sie merken, dass das etwas zu tun hat, was ihnen in ihrem Alltag begegnet“, sagt Libby Etherington. Und sie fährt fort: „Das wahre Geheimnis ist, auf Gott zu hören.“ So weit, so gut, das kennen wir ja. Doch jetzt kommt der entscheidende Zusatz: „Man muss das Evangelium durch den Filter der lokalen Umstände hören.“
Das ist reine Kontextualität, eine gut postmoderne Einstellung. Was brauchen die Menschen? Das ist die entscheidende Frage. Es kommt auf die Menschen an. Für die FreshX gelten einige Grundsätze, die nirgends festgelegt sind, die ich aber immer wieder beobachtet habe:
Grundsätze der FreshX
Kontextualität. Das Angebot, das Kirche macht, muss zu den Menschen vor Ort passen. Gemeinden sind sehr unterschiedlich, was ihre soziale Struktur angeht, den Bildungsgrad der Bevölkerung, die Altersstruktur usw., und jede Gemeinde liegt in einem konkreten Ort mit seinen je eigenen Bedingungen: Infrastruktur, ethnische Mischung der Bevölkerung usw. Darauf einzugehen ist das Allererste, was Not tut. Das bedeutet: Die Menschen vor Ort befragen, bevor man mit Angeboten beginnt. Denn „den Menschen“ oder „die Gemeinde“ gibt es nicht, es gibt immer nur konkrete Individuen, konkrete Gruppen, und konkrete Orte mit ihrem jeweiligen konkreten Kontext.
Menschen sind wichtiger als Räume. Altehrwürdige Kirchen werden umgebaut und dienen als Kinderspielplatz, als Speisesaal, als Ort für Seminare, Vorträge, Konzerte, auch mal für Tanzveranstaltungen. In einem Neubaugebiet muss nicht als Erstes eine Kirche gebaut werden. Viel wichtiger ist es, mit den Einwohnern ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was sie brauchen. Veranstaltungen bis hin zu Gottesdiensten können in angemieteten Räumen stattfinden.
Diakonische Aktivitäten in der Kirchengemeinde. Überall da, wo diakonische Aktivitäten – Essensausgaben, Hausaufgabenhilfe, Einkaufshilfen usw. – in den Gemeinden stattfinden, wird auch das Gemeindeleben aktiviert – bis hin zum Gottesdienstbesuch. Menschen tauchen auf, die bisher keinen Kontakt zur Kirche hatten, weil sie merken: Hier geschieht etwas, was gut ist für die Menschen und die Nachbarschaft. Bei manchen Menschen, die mit der traditionellen, vormodernen Kirche nichts mehr anfangen konnten, weil sie selbst den traditionellen Bewusstseinsraum längst hinter sich gelassen haben, wird Interesse an der Kirche geweckt.
Interkonfessionelle Zusammenarbeit bis hin zu transreligiöser Zusammenarbeit. In England geht das bis hin zu Anstellungsverhältnissen. In Cranbrook ist die Anglikanische Kirche offizielle Trägerin der Gemeinde, der Pfarrer aber ist Methodist. Auch dies ein gutes Beispiel für Handeln aus dem postmodernen Bewusstsein heraus, das eher auf Zusammenarbeit und gegenseitige Anerkennung ausgelegt ist als auf Abgrenzung und darauf, das je Eigene eifersüchtig zu hüten.
Kommen wir nun zum zweiten großen Punkt, zur Transformation.
2.2 Transformation
Während es bei Translation (=Übersetzung) darum geht, den bekannten Inhalt von einer Sprache in die andere zu übersetzen (also neue Formen, neue Sprache, neue Musik), geht es bei TransFORMation um eine neue Form. Das bedeutet, radikal gesprochen, dass die herkömmliche Gemeindestruktur aufgegeben oder zumindest infrage gestellt wird. Ein Satz von Dietrich Bonhoeffer könnte hier als Überschrift dienen, der in einem seiner Briefe aus der Gestapo-Haft geschrieben hat: „Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist.“
Wenn ich diesen Gedanken radikal ausdenke, bedeutet das: Wir deuten das Innen-Außen-Prinzip um. Es geht nicht mehr darum, Menschen „hereinzuholen“, damit sie Gemeindeglieder werden oder sich zu Jesus Christus bekehren, wie wir ihn verstehen. Sondern es geht darum, den Menschen zu dienen. Kirche ist dabei unter Umständen gar nicht mehr als Kirche erkennbar. Aber das muss ja vielleicht gar nicht so schlimm sein.
Ich möchte auch hier einige Beispiele bringen, die noch über die FreshX hinausgehen.
De Nieuwe Poort, Amsterdam. Im Jahr 2012, mitten in der Weltwirtschaftskrise, startete ein Pfarrer in Amsterdam ein Programm, um langzeitarbeitslosen Menschen Ausbildung und Beschäftigung zu ermöglichen. Er fand im feinsten Büroviertel ein großes Gebäude, das aufgrund der Krise leer stand, und konnte es sehr günstig mieten. Ein Restaurant mit eigener Kaffeerösterei entstand, in dem Menschen, die gerade aus der Haft entlassen waren, und andere, die lange arbeitslos waren, einen Beruf erlernen und arbeiten konnten. Bis heute finanziert sich das Projekt durch die Einnahmen aus dem Restaurant und durch die Vermietung von Konferenzräumen – das Gebäude ist wirklich sehr groß. Gleichzeitig gründete er eine „New University“, in der „Kurse für Leben und Arbeit“ angeboten werden. Hier erhalten Menschen die Möglichkeit, über ihr Leben und dessen Sinn zu reflektieren. Nirgends wird das Wort „Kirche“ erwähnt, und dennoch ist De Nieuwe Poort für mich ein gelungenes Beispiel für kirchliche Transformation. Die Menschen bekommen, was sie brauchen: gutes Essen und hervorragenden Kaffee, Gespräche und Seminare zu Sinnfragen, in denen die Bibel eine wichtige Rolle spielt – aber eben nicht als einzige Quelle, sondern als eine Quelle neben anderen.
Refo Moabit. In Berlin ist die Kirche zur marginalen Größe geworden. Die Reformationskirche im Stadtteil Moabit stand leer, die Gemeinde war praktisch aufgelöst. Da kam eine Gruppe junger Menschen, die nach neuen Wegen des Christseins suchten, und übernahmen Kirche, Gemeindehaus und die Pfarrerwohnungen, die nicht mehr gebraucht wurden. Sie gründeten einen Konvent, eine moderne Form von Lebensgemeinschaft mit einer gewissen Verbindlichkeit, aber ohne Zölibat oder ähnliche monastische Verpflichtungen. Auch sie gingen als Erstes durch die Straßen und fragten die Menschen, was sie brauchten. So entstanden als Erstes eine große Kindertagesstätte und ein Jugend-Theaterprojekt, dazu ein wöchentliches Abendessen für die Menschen im Viertel. Gottesdienste werden auch gefeiert, aber nur einmal im Monat, dafür gibt es jeden Mittwoch Meditation nach Ignatius von Loyola und zweimal im Monat Kontemplation.
Was diese Initiative unterscheidet von den FreshX-Projekten und weshalb ich sie als Beispiel für Transformation aufführe, ist dies: Es gibt keine von der Großkirche bezahlten Hauptamtlichen, es ist eine Initiative von Menschen, von Christen, die einfach für andere da sein wollen. Zwar gab es eine Anschubfinanzierung durch die Landeskirche – die Gebäude mussten umgebaut werden. Aber die laufenden Kosten werden durch Spenden und durch Vermietung von Räumen aufgebracht. Die Refo versteht sich als „ein offener, gastfreundlicher Gottes-Ort“ und betont gleichzeitig: „Wir können Menschen in unsere Hoffnung hineinnehmen und mit ihnen hoffnungsvoll leben, ohne dass sie den Grund unserer Hoffnung für sich annehmen können.“
Online-Gemeinde. Die Digitalisierung bietet ganz neue Möglichkeiten. Gerade in der Pandemie haben viele Gemeinden gelernt, die Möglichkeiten der Online-Kommunikation zu nutzen und wertzuschätzen. Aber schon vorher gab es Ansätze, diese Online-Kommunikation für christliche Gemeinschaft zu nutzen. Nicht als Notbehelf, sondern als echte Chance. Noch ist es so, dass es nicht so sehr viele Menschen mit einem integralen Mindset gibt. Es ist für diese Menschen nicht einfach, in räumlicher Nähe Christen zu finden, die ähnlich denken, glauben und leben wollen wie sie selbst.
Ich möchte kurz zwei Beispiele anführen, wie eine solche Online-Gemeinde aussehen kann. Die eine funktioniert bisher rein online auf der Kommunikationsplattform Slack. Alle vier Monate gibt es Plenumstreffen per Zoom, zu denen alle eingeladen sind, um über das vergangene Trimester zu reflektieren und für das kommende zu planen. In den vier Monaten zwischen diesen Plenumstreffen finden alle möglichen Treffen statt: Lesegruppen, Meditationsgruppen, Geistliche Begleitung, Austauschrunden, in denen die Mitglieder über ihre Praxis vor Ort sprechen können, und vieles mehr. Organisiert werden diese Treffen von Mitgliedern: Wer eine Idee hat, lädt offen dazu ein. Wer teilnimmt, ist dabei. Es gibt ein Lenkungsgremium, das aber nicht feststeht – auch hier gilt: Wer teilnehmen und Verantwortung übernehmen will, ist dabei. Für den Sommer ist erstmal ein Offline-Treffen geplant, zu dem Menschen aus ganz Deutschland und Österreich zusammenkommen sollen.
Das andere beruht auf einem YouTube-Channel, den Joerg Urbschat, ein Pfarrer der Nordkirche begründet hat und mehrmals in der Woche bespielt. Darin geht es um Natur und Spiritualität. Aus den mehr als 4000 Followern, die dieser Kanal inzwischen hat, hat sich mittlerweile ein Netzwerk gebildet, in dem sich Gleichgesinnte vor Ort finden und offline treffen können. Die Organisationsstruktur ist sehr locker und flach, es gibt keine Hierarchien, alles geschieht auf Augenhöhe.
Ob diese Initiativen Zukunft haben und als Modell für die Zukunft der Kirche taugen, kann ich nicht sagen. Aber sie erfüllen praktisch alle Kriterien für Transformation, die ich gleich nennen möchte.
Zuvor noch ein letztes Modell, das es nur teilweise in der Wirklichkeit gibt. Es ist meine persönliche Vision von Kirche.
Mein Traum. Ich habe die letzten 15 Jahre meines aktiven Berufslebens in einer Krisenberatungsstelle gearbeitet – ein Raum am zentralen Platz der Stadt, dessen Tür offensteht. Menschen können ohne Anmeldung und ohne Terminvereinbarung einfach hereinkommen und finden jemand, der mit ihnen über ihre Probleme und Lebensthemen spricht. Das war für mich die ideale Kirche – fast. Was fehlt, ist ein Raum der Stille, in dem sich Menschen mitten im Trubel der Großstadt für ein paar Minuten zurückziehen können, wo auch gemeinsame Gebete, Meditationskurse usw. angeboten werden können. Um den Traum perfekt zu machen, wäre dieser Ort getragen von einer Gemeinschaft von Menschen, wie in Moabit, die ohne finanzielle Mittel der Großkirche auskommen. In meinem Traum gibt es in einer Großstadt wie München sechs oder acht oder zehn solcher Zentren. Noch ist es ein Traum.
Kriterien für Transformation
Diese Gesichtspunkte sind für mich bestimmend, wenn es um Transformation der Kirche geht:
Eine transformierte Kirche ist unabhängig von der Kirchensteuer (ein Punkt, der sehr deutsch ist – bei Ihnen in Lettland gilt das schon lange). Sie hat keine fest angestellten Mitarbeiter und wenn doch, werden diese auf Zeit gewählt. Denn jedes Engagement, hauptamtlich oder ehrenamtlich, ist zeitlich befristet auf, sagen wir, zwei oder drei Jahre, und wird dann überprüft, kann verlängert, aber auch ohne Diskussion zurückgegeben werden. Die Leitungsstrukturen sind demokratisch und fluide. Es braucht keine kirchlich erkennbaren Räume, und wenn es sie doch gibt, wie in Moabit, werden sie umgestaltet und bewohnbar gemacht. Das Alltagsleben soll sich in ihnen abspielen können. Die Gemeinschaft ist in ihrem Denken, Beten und Handeln offen, sie ist transkonfessionell und interreligiös offen.
Es gäbe an diesem Punkt noch viel zu träumen und zu imaginieren, auch von manchen gelungenen Projekten könnte man noch erzählen. Aber ich möchte zum Schluss noch auf den dritten Punkt zu sprechen kommen, die radikalste Transformation, die man sich vorstellen kann: Können wir die Kirche sterben lassen?
3. Sterben lassen
Ich möchte es gleich vorneweg sagen: Das Folgende ist ein reines Gedankenexperiment. Es ist kein Vorschlag und ich gehe nicht davon aus, dass es in die Tat umgesetzt wird. Trotzdem möchte ich dieses Gedankenexperiment wagen. Manchmal helfen radikale Vorstellungen, einen klareren Blick auf Gegenwart und Zukunft zu werfen.
Was also, wenn die Synode heute erklären würde: „In sieben Jahren wird die Kirche abgeschafft sein. Am 1. März 2029 sind alle Liegenschaften verkauft, alle Mitarbeitenden entlassen, alle Aktivitäten eingestellt.“
Sieben Jahre sind eine gute Zeit – einmal ist sieben ja eine heilige und gut biblische Zahl. Zum anderen würden sieben Jahre genug Zeit geben, die Kirchen, Gemeindehäuser und Grundstücke zu verkaufen. Die Pfarrer könnten die Zeit nutzen, um umzuschulen – als Therapeuten, Kraftfahrer, Personalsachbearbeiter, Künstler oder Handwerker, je nach ihren Fähigkeiten.
So würde das langsame Siechtum verhindert, das langsame Absterben einer Institution, die sich überlebt hat – zumindest könnte das eine Lesart der Geschichte sein.
Was käme dann?
Mit der Kirche würden ja nicht unbedingt die Christen verschwinden. Kirchliche Mitarbeiter, die keine Anstellung mehr haben, könnten ihre Überzeugung trotzdem irgendwie weitertragen, in Hauskreisen, Vereinen, Initiativen aller Art. Christen, die nicht mehr von einer Gemeinde versorgt werden, können sich selbst organisieren, wie es in Apostelgeschichte 2 (46b–47a) steht: „Sie brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“ Wenn das vor 2000 Jahren möglich war, wieso sollte es nicht auch heute gehen?
Es wäre keine leichte Zeit, eine Zeit zwischen Karfreitag und Ostern. Aber gerade dieser Vergleich zeigt, dass Gottes Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft sind. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh 12,24) Ich möchte Sie einladen, sich auf das Gedankenexperiment einzulassen, es wird sich nachher auch einer der Workshops um dieses Thema drehen. Welche fruchtbaren Phantasien setzt diese Vorstellung frei? Wie kann die gedachte Karsamstagssituation unsere Imagination in Richtung Transformation der Kirche in Gang setzen?
Ich lasse diese Frage hier einmal stehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.