Taufe

Nachdem ich nicht so oft mit Predigen dran bin, werde ich hier auch ältere Predigten einstellen. Die folgende ist nicht so furchtbar alt, sie ist vom 8. Juli 2018. Im Grunde auch eine Themenpredigt, diesmal über die Frage, was die Taufe eigentlich bedeutet.

csm_Taufe_Jesu_799cd26cb4

 

Was man so Zufall nennt…

Liebe Gemeinde, vor ein paar Wochen kam eine Mail bei mir an mit der Anfrage, ob ich den Nico am heutigen Sonntag taufen kann. Klar, warum nicht. Ich sagte zu, und dann sah ich mir die Texte für den heutigen Sonntag an. Tja, was soll ich sagen: Der 6. Sonntag nach Trinitatis hat als Thema: die Taufe. Das wussten die Eltern von Nico natürlich nicht – es ist uns allen einfach so zugefallen. Und es ist natürlich ausgesprochen sinnvoll, heute nicht nur über die Taufe zu reden, sondern auch eine Taufe praktisch zu vollziehen. Besser kann es nicht passen – was man eben so Zufall nennt.

Jetzt haben wir den Nico also getauft. Nachdem Nico kein Kleinkind mehr ist – er kommt im Herbst in die Schule –, habe ich nicht nur seine Eltern und Paten gefragt, ob er denn getauft werden soll und ob sie ihn begleiten wollen in seinem Aufwachsen in Glauben und Leben. Ich habe ihn auch selbst gefragt, ob er an Gott glaubt und an Jesus und ob er getauft werden möchte. Und er hat ja gesagt.

Nun könnte man natürlich fragen: Ist ein Junge mit sechs Jahren nicht noch viel zu klein dazu, weiß er denn überhaupt, was er da zugesagt hat?

Ich frage dagegen: Weiß denn eine 30-Jährige so genau, was das ist: aufwachsen im Glauben an den dreieinigen Gott? Weiß es ein 70-Jähriger, was er damit sagt, wenn er bekennt: Ich glaube an Gott!?

Wissen Sie das so genau? Wissen Sie, was das heißt: an Gott glauben? Ich muss sagen: Ich habe zwar eine gewisse Vorstellung davon, was ich meine, wenn ich das Wort Gott ausspreche. Aber das Einzige, was ich sicher weiß, ist dies: Gott ist immer noch ganz anders, viel größer, viel geheimnisvoller, als ich mir das jemals vorstellen kann. Und noch etwas ist ziemlich sicher: Wenn ich heute von Gott spreche, dann habe ich dabei ein anderes Bild vor Augen als mit 30 oder mit 18 oder mit sechs Jahren. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Im Blick auf den Glauben sind wir immer auf dem Weg, und in diesem Leben werden wir nie den Punkt erreichen, an dem wir sagen könnten: Jetzt bin ich angekommen. Jetzt weiß ich alles über Gott. Im Prinzip unterscheiden wir „Großen“ uns da gar nicht von einem „Kleinen“. Im Blick auf Gottes Geheimnis bin ich im Prinzip genauso weit oder genauso am Anfang wie Nico.

Und darauf kommt es ja auch gar nicht an. Um getauft zu werden, braucht es kein ausgefeiltes, theologisch korrektes, fundiertes Wissen über Gott und Jesus und die allerheiligste Dreifaltigkeit. Es braucht im Grunde nichts als die Offenheit, die Bereitschaft, sich einzulassen auf das, was mir das Leben über Gott beibringen wird.

Deswegen können wir auch Säuglinge taufen, also Kinder, die noch gar nicht ja oder nein sagen können zu dem, was wir mit ihnen tun. Und damit, dass wir so ganz kleine Kinder taufen, sagen wir noch etwas anderes. Wir sagen damit: Gottes Ja ist
immer schon da, noch bevor ich selbst überhaupt
ja oder nein sagen kann. Gott achtet nicht darauf, dass ich mich für ihn entscheide – und dann erst sagt er auch ja. Gott sagt immer schon ja zu mir. „Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren“, heißt es in einem Weihnachtslied, „und hast mich dir, zu Eigen gar, eh ich dich kannt‘, erkoren.“ Genau. Lange bevor ich überhaupt wusste, was das Wort Gott bedeutet, hat Gott schon ja zu mir gesagt. Und zu Nico und zu euch allen, die ihr hier in der Kirche seid, und damit hört es lange nicht auf.

Manche Kirchen sehen das anders. Die Baptisten und andere Kirchen taufen Menschen erst, wenn sie sich bewusst entscheiden können für den Glauben. Das kann man so sehen und kann es so machen. Wir Lutheraner aber und die Katholiken und die Orthodoxen, wir betonen, dass Gott immer den ersten Schritt macht. Und dass es nicht an unserer Entscheidung liegt, ob wir zu Gott gehören oder nicht.

Was weiß denn ein 30-Jähriger darüber, was es heißt, im Glauben zu leben? So habe ich vorhin gefragt. Dabei ist mir eine Geschichte eingefallen, eine Geschichte aus der Zeit, als ich ein junger Pfarrer in St. Lukas war. Es muss dreißig Jahre her sein oder länger. Wir hatten damals in St.
Lukas die Nachtkirche eingeführt, ein meditatives Nachtgebet, jeden Donnerstag um 22 Uhr, ja: jeden Donnerstag. Die Kirche ist nur von Keren erhellt, es gibt zwei, drei Taizé-Lieder, eine Lesung, ein bisschen Musik und vor allem die Stille, den
großen, stillen, fast stockdunklen Raum. Diese Nachtkirche gibt es übrigens bis heute, auch diese Woche wieder. Wenn Sie neugierig geworden sind, können sie ja mal hingehen.

Eines Donnerstags kam nach der Nachtkirche ein junger Mann auf mich zu, ungefähr 30 Jahre alt. Und er sagte: „Können Sie mich taufen?“

„Na klar“, sagte ich.

„Jetzt?“

„Wie, jetzt? Jetzt gleich?“

Ich war baff. Aber der junge Mann schien es ernst zu meinen. Und während ich noch zögerte, sagte er: „Was spricht denn dagegen?“

Und mit dieser Frage hatte er mich erwischt. Mir fiel eine Geschichte ein aus der Bibel, aus der Apostelgeschichte, und diese Geschichte ist für den heutigen Sonntag als Predigttext vorgesehen. Das war jetzt ein langer Anlauf, aber nun kommt er, der Predigttext, aus der Apostelgeschichte, Kapitel 8:

Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.

Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.«

Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich.

„Was hindert’s, dass ich getauft werde?“ Diese Frage des Kämmerers schoss mir sofort durch den Kopf. Und wie es der Zufall wollte – was man eben so Zufall nennt –, es waren zwei Kirchenvorsteherinnen in der Nachtkirche, die ich fragen konnte, was sie davon halten. Und gemeinsam beschlossen wir, den jungen Mann tatschlich zu taufen. Er war vor kurzem aus der DDR gekommen – über Ungarn oder Jugoslawien, es war noch vor dem Mauerfall. Er wusste nicht viel über den Glauben, aber er wollte getauft werden. Und so haben wir ihn gemeinsam auf diesen Weg, diese Straße gesetzt, auf der der Kämmerer aus Äthiopien unterwegs war und auf der wir alle unterwegs sind, in der Hoffnung, dass es auch für diesen jungen Mann gilt: Er zog aber seine Straße fröhlich.

Was ist da eigentlich geschehen, als wir diesen jungen Mann getauft haben? Natürlich, er wurde in die Kirche aufgenommen, in die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und in die unsichtbare Kirche, den mystischen Leib Christi. In früheren Zeiten hätte man vielleicht noch gesagt: Der junge Mann wurde dadurch vor dem Verderben gerettet, er hatte jetzt die Aussicht auf das Ewige Leben, die er vorher nicht hatte, weil er vorher ja nicht zu Jesus Christus gehörte. Ja, früher hat man das so gesehen und auch heute noch sehen das manche so. In Zeiten oder an Orten oder in Gemeinden, in denen das Drinnen – Draußen eine Rolle spielt, die von dem Gegensatz zwischen Drinnen und Draußen geprägt sind, da hat man das so gesehen und sieht es heute noch so. Also so: In der Taufe hat Gott diesen jungen Mann als sein Kind angenommen, und dadurch ist er gerettet.

Der Umkehrschluss würde dann heißen: Alle, die nicht getauft sind, gehen verloren. Alle, die nicht durch die Taufe zu Jesus Christus gehören, fahren, drastisch gesprochen, zur Hölle. Diese Vorstellung, dieser Glaube hat den ersten Christen diesen umwerfenden und unwiderstehlichen missionarischen Schwung gegeben, und auch heutige Gemeinden, die geprägt sind von diesem Gegensatz zwischen Drinnen und Draußen, zwischen gerettet und verloren, solche Gemeinden entwickeln auch heute oft einen ungeheuren missionarischen Drive und versuchen möglichst viele Menschen zu ihrem Glauben, zu ihrer Gemeinde zu bekehren. Um sie zu retten.

Um ehrlich zu sein: Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass all die Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – von meinem Gott nichts erfahren, dass die eben Pech gehabt haben. Ich glaube nicht, dass alle, die an etwas anderes glauben als an „meinen“ Gott, verloren gehen. Vielmehr bin ich der festen Überzeugung, dass Gott alle seine Menschen liebt, ob sie ihn kennen oder nicht, ob sie seine Liebe erwidern oder nicht. Was wäre das denn für ein Vater, der sein Kind verstößt, weil es ihn nicht wiedererkennt oder weil es bockt oder weil es sich wütend oder gelangweilt oder enttäuscht von ihm abwendet?

Ich glaube nicht, dass Nico heute durch die Taufe Gottes Kind wurde. Das war er schon immer. Schon von seiner Zeugung an war Nico nicht nur das Kind seiner Eltern, sondern auch das Kind Gottes. In der Taufe heute haben wir das allerdings öffentlich und persönlich bekanntgegeben: Nico B., ein Kind des ewigen Gottes. Was also schon längst und schon immer gegolten hat, haben wir heute für alle sichtbar und hörbar festgestellt.

Wozu braucht es das dann aber? Wenn Nico schon immer Gottes Kind war und schon immer zu Gott gehört hat wie eben ein Kind zu seinen Eltern gehört, wozu haben wir ihn dann noch getauft?

Ich glaube, das ist so wie beim Heiraten. Ein Mann und eine Frau (oder eine Frau und eine Frau, ein Mann und ein Mann) können zusammenleben, sie können einander lieben und das Leben teilen, und einander treu sein ein Leben lang, auch ohne verheiratet zu sein. Aber: In der Hochzeit geben sie es öffentlich bekannt. Sie bekennen sich zueinander, sie versprechen vor Familien und Freunden und vor Gott und seiner Gemeinde, dass sie beieinander bleiben wollen. Und viele Paare, die vorher schon lange zusammen waren, sagen: Es hat sich tatsächlich etwas geändert. Es fühlt sich anders an.

Und das hat dann auch institutionelle Konsequenzen – beim Erbrecht etwa, oder wenn eins von beiden im Krankenhaus liegt, darf die Ärztin den Ehemann und die Ehefrau informieren. Und auch das Finanzamt behandelt sie nun anders als vorher.

So ähnlich ist es auch mit der Taufe. Natürlich war der Nico auch bisher schon Kind Gottes – nicht nur Kind seiner Eltern. Aber jetzt ist es sozusagen offiziell. Bekanntgegeben und durch ein Ritual bekräftigt vor euch, der Gemeinde.

Und das hat dann ebenfalls institutionelle Konsequenzen. Nicolaus Bauer ist nun eingetragenes
Mitglied der Kirche. Er kann später bei der Kirchenvorstandswahl mitmachen, er kann wählen und gewählt werden. Und er muss Kirchensteuer zahlen, wenn er mal Geld verdient. Aber vor allem: Er
gehört dazu, er ist jetzt ein Mitglied dieser Gemeinde, die dieses Verständnis von Gott und seiner Liebe hat.

Gott hat Nico auch vorher geliebt, mit der unendlichen Liebe, mit der Gott alle seine Kinder liebt, die getauften wie die nicht getauften. Aber jetzt ist es ihm noch einmal auf den Kopf zugesagt worden. Sein Name ist mit dem Namen des dreieinigen Gottes in einem Atemzug genannt, in einen Zusammenhang gesprochen worden. Das hat sich geändert. Und wenn es gut geht, ist Nico, ja: Wenn es gut geht, sind wir alle, die wir getauft sind, auf einen Weg gesetzt, von dem es heißen kann: Er zog seine, sie zog ihre Straße fröhlich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Bruder, dem Erstgeborenen unter uns Kindern Gottes. Amen.

 

Bildnachweis: https://www.trinitatiskirche-loeningen.de/wir-fuer-sie/taufe.html

Was ist Gott?

Diese Predigt ist inspiriert von einem Vortrag von Marcus J. Borg, „What is God?“ Borg bringt in diesem kurzen Vortrag vieles auf den Punkt, was ich seit langem denke und worüber ich seit langem rede und predige. Am 5. August 2018 habe ich mein gegenwärtiges Bild von Gott in eine Themenpredigt gefasst.

Pferdekopfnebel

 

Was ist Gott?

Liebe Gemeinde, das scheint ja eine eher unpassende Frage zu sein – in einem Gottesdienst! Sollte nicht sonnenklar sein, wen oder was wir hier feiern, wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen?

Meine erste Antwort: Schön wär’s! Schön wär’s, wenn wir alle, die hier heute anwesend sind, auf Anhieb erklären könnten, was sie meinen, wenn sie das Wort „Gott“ aussprechen.

Aber auch wenn das so sein sollte. Selbst wenn wir alle eine schlüssige Antwort parat hätten auf die Frage: „Was ist Gott?“ – selbst dann ist es kein Schaden, sich einmal in Ruhe dieser Frage zu stellen. Denn wir Menschen verändern uns, wir entwickeln uns, und auch unser Glaube darf und soll sich entwickeln. Damit er zu unserem Leben passt.

Ich selbst kann von mir sagen, dass sich mein Glaube mehrmals in meinem Leben grundlegend gewandelt hat. Und das in doppelter Hinsicht: Gewandelt hat sich das „Wie“ meines Glaubens wie auch das, woran ich glaube. Und gleichzeitig – das ist das Geheimnisvolle – ist dieses „Was“, woran ich glaube, immer sich selbst ähnlich geblieben, so wie ich mir selbst ähnlich geblieben bin in all den Entwicklungen und Veränderungen.

 

***

Ich glaube, es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Frage „Was ist Gott“ zu beantworten.

Die erste Möglichkeit: Gott ist ein Wesen. Das höchste Wesen, sicher, aber Gott ist ein Wesen. Er – halt! Da wird es schon kompliziert! Dieses höchste Wesen hat sicher kein Geschlecht wie wir Menschen ein Geschlecht haben. Gott ist kein Mann und keine Frau. Trotzdem ist das Wort „Gott“ grammatikalisch männlich und in der Vorstellung der allermeisten Menschen ist Gott sicher männlich. Selbst wenn wir in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch weibliche Bilder für Gott entwickelt und wiederentdeckt haben – Gott ist für die meisten Menschen ein Mann.

Auch wenn die meisten hier Anwesenden sich Gott wohl nicht als alten Mann mit langem Bart vorstellen, wie er in meiner Kindheit im Gottbüchlein dargestellt war oder wie er auf den Bildern von Schnorr von Carolsfeld zu sehen ist und auf vielen Fresken, nicht zuletzt in der Sixtinischen Kapelle – Sie kennen sicher das Bild von der Erschaffung Adams, Gott als mächtiger, älterer Mann, umgeben von Putten und Engeln, im Arm die Weisheit als junge Frau, und er streckt seinen Zeigefinger Adam entgegen, der sich gerade aus der Erde erhebt.

So gut ich weiß, dass Gott ganz sicher nicht so aussieht, im Unbewussten regt sich unwillkürlich ein solches Bild, wenn ich das Wort Gott höre. Diese Bilder sind so stark und so tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert, dass etwa der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle einmal gesagt hat, dass er ganz auf das Wort Gott verzichtet und stattdessen Ausdrücke verwendet wie „das Sein selbst“ oder „das Leben“ – und ich kann es ihm nicht verdenken.

Das Problem dabei, wenn wir uns Gott als Wesen vorstellen, ist dies: Ein Wesen, und wenn es auch das höchste Wesen ist, ist immer irgendwie begrenzt, denn es unterscheidet sich von anderen Wesen. Es steht mit dieser Welt zwar in Beziehung, aber es unterscheidet sich doch von dieser Welt. Es ist irgendwie „dort“, in einem wie auch immer gearteten Jenseits. Auch wenn das höchste Wesen Gott mit dieser Welt zu tun hat und in ihr gegenwärtig ist, ist seine „Heimat“ eigentlich doch anderswo. Das meinen wir, wenn wir vom „Himmel“ sprechen. Natürlich wissen wir, dass Gott nicht „da oben“ ist, auf einer Wolke. Aber so ganz hier in dieser Welt geht er auch nicht auf.

Nächster Punkt: Wenn wir uns Gott als höchstes Wesen vorstellen, dann stellen wir ihn uns auch vor wie eine Person: Mit Eigenschaften, die dieses Wesen, diese Person, von anderen Wesen und von anderen Personen unterscheiden. Das sind natürlich sehr einmalige Eigenschaften: Wir stellen uns Gott als allmächtig vor, als allwissend, als allgegenwärtig. Und doch in irgendeiner Weise begrenzt.

Ein Beispiel. Wenn wir sagen: Gott ist gut – was ist dann mit dem Bösen? Wenn wir sagen: Gott ist unsterblich – was ist dann mit dem Tod? Wenn wir sagen: Gott ist liebevoll – hat diese Liebe dann Grenzen? Wenn wir sagen: Gott ist gerecht – beißt sich das nicht mit der Aussage, dass Gott barmherzig ist? Hebt die Barmherzigkeit nicht die Gerechtigkeit auf, oder kommt sie ihr nicht zumindest immer mal wieder dazwischen?

Und schließlich: Dieser Gott, den wir uns als Wesen vorstellen, der greift von Zeit zu Zeit in den Lauf der Welt ein. Er hat Wunder getan, jedenfalls in den biblischen Zeiten, und er erhört Gebete: Er rettet Menschen, er heilt Menschen, er ändert den Lauf der Ereignisse – jedenfalls manchmal. Warum er manchmal eingreift und manchmal anscheinend nicht – ja, das ist sein Geheimnis.

All das schwingt mit, wenn wir uns Gott als Wesen vorstellen – als „jenes höhere Wesen, das wir verehren“, um mit Dr. Murke zu sprechen. Darauf können sich ja viele noch einlassen: Irgendein höheres Wesen muss es ja doch irgendwie geben…

Diese Vorstellung, Gott sei ein höheres oder auch das höchste Wesen, ist in unserer Kultur weit verbreitet und auch in unserer Kirche – und natürlich findet sich diese Vorstellung auch allenthalben in den heiligen Schriften, natürlich auch in der Bibel.

 

***

Aber auch in der Bibel gibt es durchaus andere Vorstellungen und Bilder von Gott. „Gott ist Geist“ heißt es zum Beispiel im Johannesevangelium. Und: „Gott ist die Liebe“ im 1. Johannesbrief. Damit sind wir bei der zweiten grundlegenden Möglichkeit, von Gott zu sprechen. Gott ist dann so etwas wie die allumfassende Wirklichkeit, das Sein selbst, der Geist, der alles durchdringt und allem zugrunde liegt. Gott ist die Tiefe in und hinter allem, Gott ist das Geheimnis der Welt. Gott ist du Summe all dessen, was ist, und Gott ist die Summe aller Möglichkeiten, also die Summe all dessen, was noch werden kann. Gott ist das Große Ganze, so sage ich selbst gern. Oder: Gott ist das Ein und Alles.

Oder, wie wir vorhin in der Lesung aus der Apostelgeschichte gehört haben: Gott ist keinem von uns fern, denn in ihm leben, weben und sind wir. Dieser Gott ist der Welt nicht gegenüber. Er ist nicht irgendwo in irgendeinem Jenseits. Dieser Gott ist hier. Mitten unter uns. Inwendig in uns. Er durchströmt und belebt uns. Sie gebiert uns jeden Augenblick neu. Sie ist die Energie und Kraft, die alles in jedem Augenblick im Dasein hält.

Dieser Gott ist immer bei uns, in uns, unter uns. Dieser Gott ist das eigentliche Leben in uns. Alles, was uns bewegt, was uns lebendig macht, was sich in uns in Liebe bewegt.

Wenn wir uns Gott auf diese Weise vorstellen, dann hat das eine Reihe von Konsequenzen.

Zum Beispiel: Diesen Gott brauchen wir nicht zu fürchten. Dieser Gott wird uns niemals strafen. Er ist ja in uns, er kennt all unsere Motive, er weiß, weshalb wir oft egozentrisch sind und böse. Er weiß, welches Leid und welche Ängste und welche Entbehrungen unserer Egozentrik und unserer Bosheit zugrunde liegen. Und er versteht uns durch und durch, viel besser, als wir uns jemals selbst verstehen werden.

Jetzt höre ich schon den Einwand: Ja, wenn Gott nicht straft, wenn wir uns nicht fürchten müssen, dass wir für unser Fehlverhalten bestraft werden – dann können wir doch alles machen, was wir wollen. Dann geht es in der Welt doch drunter und drüber, jeder verfolgt nur seine eigenen egoistischen Interessen und denkt nicht mehr ans Gemeinwohl. Aber im Ernst: Ist es wirklich ethisch hochstehend, wenn wir uns nur aus Angst vor Strafe an bestimmte Vorschriften halten? Jesus jedenfalls lädt uns ein, aus Liebe zu handeln und nicht aus Furcht vor Strafe. Aus innerer Überzeugung, weil wir es als richtig erkannt haben.

Aber das ist nur ein Aspekt, es gibt noch andere Konsequenzen, wenn wir uns Gott nicht als Wesen vorstellen, sondern als das Geheimnis und die Tiefe der Welt. Vielleicht die schärfste Konsequenz ist die: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Gott in unser Leben eingreift wie von außen. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Gott die Naturgesetze aufhebt, die er selbst geschaffen hat, um unsere Bitten zu erfüllen. Diesen Gott können wir nicht mehr anklagen wegen des Leids in der Welt und wegen des Bösen, das wir und viele andere Menschen erleben. Denn dieser Gott lenkt nicht die Schicksale, wie ein Marionettenspieler seine Puppen lenkt. Dieser Gott lebt in und mit uns, und dieser Gott leidet in und mit uns, und dieser Gott ist immer an unserer Seite, in unserem Herzen, in unserer innersten Seelentiefe.

Da höre ich wieder einen Einwand. Wie kann ich dann noch beten, wenn Gott doch nichts für mich tut?

Dazu fällt mir zweierlei ein. Erstens: Natürlich kann ich dann noch beten. Ich kann auch, zum Beispiel, um Schutz und Unterstützung für meine Lieben beten. Oder um Weisheit für die Politiker. Denn das ist einfach ein Ausdruck dessen, dass mir das Wohlergehen meiner Lieben am Herzen liegt und das Wohlergehen der Menschheit. Ich äußere meine Sorge oder meine liebenden Gedanken – und wer weiß, auf welchen Wegen dann manche dieser Wünsche doch eine Erfüllung finden.

Das zweite, was ich zu dem Einwand sagen möchte, den ich gerade formuliert habe – wie kann ich noch beten, wenn Gott doch nichts für mich tut? – das zweite ist dies: Natürlich kann ich das Gespräch mit Gott suchen und pflegen. Aber dieses Gespräch besteht dann nicht mehr aus „Mach doch dies, tu doch jenes…“ Wenn ich eine Liebesbeziehung zu Gott suche und Pflege, dann werde ich mit ihm reden wie mit einem geliebten Menschen. Zu meiner Frau sage ich ja auch nicht andauernd nur: Tu dies, mach jenes für mich. Ich erzähle ihr, was ich erlebt habe, ich frage sie um Rat und versuche dann auch, darauf zu hören, was sie mir sagt. Und schließlich sage ich ihr, so oft es geht, dass ich sie liebe. Und ich höre ihr zu. So sieht für mich ein Gespräch zwischen Liebenden aus.

Mit Gott kann ich nicht ganz so direkt reden wie mit meiner Frau, jeden falls höre ich seine Antworten nicht akustisch im Ohr. Aber ich kann Gott von meinem Leben erzählen, ich kann Gott mein Leid klagen, ich kann Gott sagen, wie sehr ich mich über dies oder jenes freue. Ich kann Gott sagen, dass ich ihn liebe, ich kann ihn einfach beständig beim Namen nennen: Du, du, du… oder: Christus – Jesus. Und schließlich: Ich kann lauschen, in der Stile lauschen auf das, was Gott mir in der Stille mitteilen mag. Wie gesagt, das höre ich nicht akustisch über die Ohren. Ich kann es, wenn ich still genug bin, im Herzen hören. Dazu muss mein Herz sich einschwingen und einstimmen auf Gott, der in der Tiefe meines Herzens wohnt.

Denn das ist das innerste Wesen der Gottesliebe: Wir werden dessen inne, dass wir in Gott leben, weben und sind, wie Paulus es gesagt hat, und umgekehrt: Gott lebt in uns, webt in uns und ist in uns. Und noch mehr: In unserer innersten Seelentiefe sind wir selbst dieser Gott. Du und du und du und ich. Gott ist unser innerstes, tiefstes Wesen. Am Grunde unserer Existenz sind wir eins mit Gott. Dazu in drei Wochen mehr, denn am 26 August soll es um die Frage gehen: Was ist der Mensch?

Aber noch einmal, und damit komme ich zum Schluss: Gott ist unser innerstes, tiefstes Wesen – das bedeutet schließlich, dass es nichts Heiliges mehr gibt. Oder besser: Alles ist heilig. Alles ist Gottes voll. Es gibt keinen Unterscheidung mehr zwischen heilig und profan, zwischen himmlisch und weltlich. Gott in allen Dingen suchen und finden – das ist der Wahlspruch der Jesuiten, die eine große mystische und kontemplative Tradition pflegen. In allen Dingen. Das ist das Ziel eines Christenlebens: Gott in allen Dingen suchen und finden – und lieben.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, dem großen Liebenden, der uns begegnen will in allen Dingen, du in unserem Herzen. Amen.

 

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten