Was ist das Problem?

Erschaffung Adams

Nach „Was ist Gott?“ und „Was ist der Mensch?“ kommt nun „Was ist das Problem?“
Predigt, gehalten am 21. Oktober in St. Markus

 

Was ist das Problem?

Liebe Gemeinde, manche wissen es ja: Im August habe ich eine Mini-Predigtreihe gehalten aus zwei Predigten. Die Titel: „Was ist Gott?“ und „Was ist der Mensch?“

Und jetzt also: „Was ist das Problem?“

Ich will ganz kurz die Kernaussagen meiner August-Predigten noch einmal aufgreifen. Gott, so glaube ich, ist kein höheres Wesen, das irgendwo in einem Jenseits thront. Gott ist vielmehr die Tiefe des Lebens, das Geheimnis der Welt, das Sein selbst. Und der Mensch? Wir Menschen sind Gottes Kinder, das heißt, in der Tiefe unseres Seins sind wir eins mit Gott.

Wenn das stimmt, wenn wir wirklich eins sind mit Gott, was ist dann das Problem? Dann sollte uns doch nichts auf der Welt irgendetwas anhaben können, nichts sollte uns Angst machen, und außerdem sollte es zwischen uns keinerlei Probleme geben, denn dann sollten wir doch lauter Liebe sein, denn es heißt doch: „Gott ist die Liebe.“

Aber so ist es bekanntlich nicht, wir brauchen ja nur in den Spiegel zu schauen, oder wir brauchen uns ja nur umzusehen in der Welt. Und da sind wir beim Problem.

Das Problem ist, dass wir eben nicht reine, lautere Liebe sind. Das Problem ist, dass wir nicht frei sind, dass uns oft genug die Angst beutelt, die Wut, der Hass. Das Problem ist, dass wir Menschen eben offenbar nicht in Frieden und Eintracht zusammenleben können und dafür sorgen, dass es allen gut geht. Wie kann das sein, wenn wir doch Gottes Kinder sind?

Die Bibel und die christliche Tradition haben auf diese Frage eine klare Antwort: Es ist etwas dazwischengekommen, und zwar – die Sünde.

Und jetzt vergessen Sie dieses Wort bitte ganz schnell wieder, denn das, was wir heute zu diesem Wort assoziieren, hat mit der ursprünglichen Bedeutung so wenig gemeinsam, dass wir es am besten gar nicht mehr verwenden.

Was damit gemeint ist, ist ganz einfach die Trennung, die Ent-zweiung. Wir sind nicht mehr eins mit Gott, wir sind ent-zweit. Wir erleben uns als abgetrennte, isolierte Individuen, herausgefallen aus der ursprünglichen Einheit in die Zweiheit. Wir erleben alles in Polaritäten, zu allem, was wir kennen, gibt es ein Gegenteil: warm und kalt, hoch und tief, nah und fern, groß und klein, Liebe und Hass und, ja: gut und böse.

Und das ist nicht unser individuelles Verschulden. Das, was die Bibel mit Sünde meint, also die Entzweiung, die Trennung, hat ursprünglich mit Verschulden, mit Schuld gar nichts zu tun, das sind zwei Paar Stiefel. Für die Entzweiung können wir nichts. Wir müssen einatmen und ausatmen, wir müssen schlafen und wachen, wir müssen uns öffnen und verschließen. Die Zweiheit gehört zu uns, solange wir auf dieser Erde leben. Allein die Tatsache, dass wir eingezwängt sind in drei beziehungsweise vier Dimensionen, allein diese Tatsache bedingt, dass wir uns nicht als das Eine, als das Große Ganze erleben können, das wir im tiefsten innersten Kern sind.

Ab und zu gibt es Menschen, die das doch erleben, diese Einheit. In Augenblicken der mystischen Verschmelzung, in Momenten der Erleuchtung, wie man das dann nennt. Manche dieser Menschen werden als Heilige bekannt oder als erleuchtete Meister, andere bleiben mit ihrer Erfahrung für sich, weil sich eine solche Erfahrung gar nicht gut in Worten ausdrücken lässt.

Für uns, die Mehrheit, bleibt die Erfahrung, dass wir getrennt sind. Individuen, die  überleben wollen und die sich deswegen oft genug gegen die anderen absetzen, die sich abspalten, die sich selbst der Nächste sind. Und eben nicht reine, lautere Liebe.

In unserem innersten Kern, in unserem tiefsten Sein, in unserem wahren Wesen, da sind wir Liebe, nichts als Liebe. Da sind wir eins mit Gott und mit all unseren Mitmenschen und mit der gesamten Schöpfung. Aber nur da.

Die Frage „Was ist das Problem?“ kann ich also in einem ersten Anlauf so beantworten: Das Problem ist, dass wir uns als abgetrennte Individuen erfahren, die in eine Welt der Zweiheit hineingeboren wurden, in eine Welt, in der es hoch und tief gibt, laut und leise, mich und dich, gut und böse, warm und kalt. Alles hat sein Gegenteil, und das Schöne daran ist: Zwar kann kein Mensch ganz und gar gut sein, wir sind immer auch böse. Es kann aber auch kein Mensch ganz und gar böse sein, wir sind immer auch gut. Und zu Gut und Böse werde ich später noch etwas mehr sagen.

Jetzt aber erst einmal die gute Nachricht: Das Problem besteht ja nur in der Welt der Zweiheit, der Ent-zweiung. Im tiefsten Kern sind wir gar nicht abgetrennt. Im tiefsten Kern gibt es also gar kein Problem.

Es gibt kein Problem zwischen Gott und uns.

Deswegen gibt es in der Bibel so viele wunderbare Zusagen. Etwa im Buch Jeremia: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Oder ein Gedanke von Paulus, aus dem Römerbrief: „Ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch (unsichtbare) Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges … weder Hohes noch Tiefes, noch sonst irgendetwas in der ganzen Schöpfung uns je von der Liebe Gottes trennen kann, die uns geschenkt ist in Jesus Christus, unserem Herrn.“ (Röm 8,38 NGÜ)

Von Gottes Seite her besteht kein Problem. Paulus kann sagen: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ – denn Gott ist längst versöhnt, mehr noch: Gott war nie unversöhnt. Nur wir müssen uns versöhnen lassen, wir müssen es kapieren, dass Gott keinen Unterschied macht zwischen drinnen und draußen, zwischen geliebt und abgelehnt. Im Evangelium, diesem Abschnitt aus der Bergpredigt, haben wir es vorhin gehört: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Darin besteht die Vollkommenheit Gottes, dass er keinen Unterschied macht zwischen Guten und Bösen, zwischen Gerechten und Ungerechten.

Ja, aber!

Gibt es nicht in der Bibel auch ganz viele Sätze, in denen vom Zorn Gottes die Rede ist, von Strafe, von Verdammnis? Heißt es nicht in ebendem Kapitel aus der Bergpredigt: „Wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig“? Und heißt es nicht auch in der Bergpredigt: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind‘s, die ihn finden“?

Ja, solche Sätze gibt es zuhauf, und sie scheinen ja geradewegs dem zu widersprechen, was ich eben gesagt habe. Da scheint es eben doch ein Problem zu geben, ein massives Problem zwischen Gott und den Menschen. Was machen wir denn mit all den Gerichtsworten, mit all dem Heulen und Zähneklappern, mit all den Strafandrohungen?

Ich glaube, hier müssen wir wirklich genau hinsehen, wie wir mit der Bibel umgehen. Und wie wir die Bibel heute verstehen können und müssen.

Ich verstehe es so: Die Bibel ist nicht in dem Sinn Heilige Schrift, dass der Heilige Geist den biblischen Autoren direkt ins Ohr gesagt hätte, was sie schreiben sollen. Die Bibel ist Heilige Schrift in dem Sinn, dass in ihr Menschen ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben haben. Und die Menschen, die die Bibel geschrieben haben, lebten in der Antike. Sie hatten ein Bewusstsein und eine Vorstellungswelt, wie sie heute vielleicht die Taliban haben, um es ganz drastisch zu sagen. Für sie gab es ganz klar dieses Drinnen und Draußen, dieses Gut und Böse, dieses Gerettet und Verloren. Und klar war: Drinnen sind wir, die andere sind draußen. Gut sind wir, die andere sind böse. Gerettet sind wir, verloren die anderen. Und so haben sie auch ihre Erfahrungen mit der tiefsten Wirklichkeit gedeutet, die wir Gott nennen.

Sie konnten das nicht anders. Sie lebten in einer Welt, in der die Todesstrafe eine Selbstverständlichkeit war, in der Eltern ihre Kinder selbstverständlich schlugen, in der Krieg eine ständige Realität war.

Wir haben heute andere Maßstäbe. Wir haben die Todesstrafe abgeschafft und verstehen den Justizvollzug nicht als Strafe oder Rache, sondern als Versuch der Resozialisierung. Wir haben einen Paragrafen im Strafgesetzbuch, der die körperliche Züchtigung von Kindern verbietet. Und wir denken heute anders über Gut und Böse. Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft nicht zwischen uns und den anderen, sie verläuft mitten durch uns hindurch. Niemand von uns ist ganz gut, niemand ist ganz böse. Wo verläuft dann die Trennlinie? Wird die Person eingelassen zum Festmahl Gottes, die zu 51 Prozent Gutes getan hat – und wird derjenige ins ewige Höllenfeuer gesteckt, der nur 49 Prozent geschafft hat? Das ist doch absurd. Wir können Menschen nicht mehr so einfach einteilen in Schwarz und Weiß, wir sind doch alle mehr oder weniger grau-kariert.

Ich sage es noch einmal, etwas kühn: Wir haben die Todesstrafe abgeschafft aus ethischen Gründen. Wir haben die körperliche Züchtigung abgeschafft aus ethischen Gründen. Sollte Gott ethisch weniger hoch stehen als wir Menschen? Sollte unser ethisches Urteil differenzierter sein das das von Gott? Sollten wir Menschen davon, wie die Gene einen Menschen bestimmen, wie Erziehung und Lebensumstände den Charakter eines Menschen formen – sollten wir Menschen davon mehr verstehen als Gott?

Ehrlich gesagt: Ich traue es Gott durchaus zu, dass er noch sehr viel mehr Verständnis hat als ich, dass sein ethisches Urteil sehr viel differenzierter ist  und sehr viel höher steht als meins. Ich bin mir gewiss, dass Gott sehr genau sieht, wie es dazu kommt, dass der eine ein Massenmörder wird und der andere ein Wohltäter der Menschheit.

Mit anderen Worten: Ich glaube, die Vorstellung, dass Gott irgendeinen Menschen bestraft für ir-gend­etwas, und sei es das schlimmste Verbrechen – ich glaube, diese Vorstellung ist zeitgebunden. Und dass wir uns, wenn wir die Bibel verstehen wollen, klar machen müssen, unter welchen Umständen und in welchem Bewusstsein die Menschen lebten, die die Bibel aufgeschrieben haben.

Ich würde nicht sagen, dass wir es heute besser wissen. Ich würde sagen, wir haben heute ein differenzierteres und ein komplexeres Verständnis von Welt und Mensch, als es die Menschen damals hatten, und demzufolge ist für uns ein weiteres und offeneres Gottesbild angemessener.

Gott straft nicht. Gott weiß doch, dass wir in der innersten Tiefe nichts sind als lauter Liebe. Nein, Gott wird uns nicht strafen, wenn die Trennung einmal aufgehoben ist und wir heimkehren zu ihm, wenn wir eingehen ins Große Ganze. All unsere Angst, all unsere Egozentrik, ja: all unsere Bosheit wird einfach wegschmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn wir in die Gegenwärtigkeit von Gottes Liebe eingetaucht sind.

Was also ist das Problem? Solange wir in dieser Welt der Entzweiung leben, können wir die lautere Liebe, die wir sind, nur in Ansätzen verwirklichen. Wir sind immer wieder gebeutelt von Angst, wir grenzen uns ab, wir schauen auf unseren Vorteil, wir unterscheiden zwischen Freund und Feind. All das ist unvermeidlich. Aber in der tiefsten Tiefe, im innersten Kern, in unserem wahren Sein und Wesen gibt es kein Problem. Gott ist uns gut, immer und unter allen Umständen. Und je mehr diese Gewissheit unser Leben und Empfinden bestimmt, desto eher sind wir vielleicht in der Lage, diese reine, lautere Liebe, die wir im Innersten sind, hinausstrahlen zu lassen in die Welt. Nie ganz  und rein, aber immer wieder mal ein bisschen mehr.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in  Christus Jesus, unserem Bruder, dem Herrn.

 

Steh auf und geh

Gichtbrüchig beschnitten

 

Vor kurzem habe ich eine Predigt unter dem Titel “Erwählt” hier gepostet. Manche haben dazu bemerkt, das sei so etwas gewesen wie Gott 9.0 als Predigt. Ja, immer wieder versuche ich das, was wir in Gott 9.0 geschrieben haben, auch in der Predigt anzuwenden.

Hier wäre ein weiteres Beispiel, vom 26. Oktober 2014, über Markus 2, 1 – 12

 

Und nach etlichen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.  Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. 

Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 

Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! 

Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

 

Was für eine Geschichte, liebe Gemeinde, was für eine Geschichte! „Die Heilung des Gichtbrüchigen“, so hieß sie früher, und ich muss sagen, ich kenne sie seit über fünfzig Jahren, aus dem Religionsunterricht, aus dem Kindergottesdienst, aus der Kinderbibel. Und wie hat sie mich fasziniert, diese Geschichte. Allein schon das Wort „gichtbrüchig“! Das klang ganz schrecklich, viel stärker als das modernere Wort „gelähmt“. Und dann: wie die Männer aufs Dach steigen und ein Loch ins Dach machen, um ihren Freund auf seiner Trage herunterzulassen, Jesus direkt vor die Füße. Diese Energie, die vor keinem Hindernis zurückscheut! Und dann Jesus, wie er sich mit großer Souveränität als der Gesandte Gottes erweist, mehr noch: als der Sohn Gottes, der vollmächtig an Gottes Stelle handelt.

Als Kind habe ich diese Geschichte ganz wörtlich genommen, und das ist auch gut so. Denn es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie wir mit biblischen Geschichten umgehen können, und dies ist eine der Möglichkeiten: Sie ganz schlicht und einfach wörtlich zu nehmen. So ist es passiert, so hat Jesus damals einen gelähmten Menschen geheilt. Das ist eine Möglichkeit, und für viele Menschen ist es wichtig, daran festzuhalten: So und nicht anders ist es geschehen. Aber dieses historische Verständnis ist nicht die einzige Möglichkeit, mit so einem Bibeltext, mit so einer Heilungsgeschichte umzugehen.

Für mich bleibt auch eine wichtige Frage offen, wenn ich diese Geschichte wie einen objektiven Bericht betrachte. Die Frage nämlich: Was hat das nun mit mir zu tun, mit uns, hier und heute, im Jahr 2014 in München, zweitausend Jahre später? Gut, Jesus hat damals diesen Kranken geheilt. Und weiter? Was bedeutet das für uns heute?

Hier sehe ich wieder zwei mögliche Antworten. Die eine: Jesus heilt heute auch noch. Und es werden ja tatsächlich immer wieder Heilungsgeschichten erzählt, wundersame Heilungen, vor allem aus jungen, wachsenden Kirchen, aus Afrika und aus Korea oder China, oder aus den Pfingstkirchen in Brasilien. Wo die Kirchen jung sind, wo sie sich ausbreiten und täglich neue Mitglieder hinzukommen, da wird eigentlich immer auch von Wundern erzählt, von Heilungen und anderen Ereignissen, die sich nicht restlos mit den Gesetzen des Alltags in Einklang bringen lassen. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was daran ist. Ich halte es für möglich, dass sich spontane Heilungen ereignen, dass Dinge passieren, die eigentlich unmöglich sind. Und es ist wunderbar, wenn eine Gemeinde solche Ereignisse erleben darf. Nur: Solche Geschichten werden nicht nur im christlichen Raum erzählt. Es gibt sie in allen Religionen. Wo Menschen mit glühendem Eifer dabei sind, wo der Glaube sie mitreißt – egal welcher Glaube –, da ist die Rede von Wundern, von Heilungen, von Erscheinungen, von Prophezeiungen, die sich erfüllen und und und.

Wenn ich nun die biblischen Wundergeschichten wörtlich nehme, wenn ich die Berichte aus jungen, missionarisch sich ausbreitenden Kirchen wörtlich nehme, dann muss ich eigentlich auch die Berichte aus anderen Religionen für bare Münze nehmen. Und das wirft dann ein eigenes Licht auf den Satz, den Jesus oft sagt, wenn ein Mensch in seiner Nähe gesund wurde: Dein Glaube hat dir geholfen. Das könnte dann ja für jeden Glauben gelten, und das wirft ein ganz wichtiges Licht auf das, was hier mit GlauSünde Vergebungben gemeint ist. Es kommt nicht so sehr darauf an, was jemand glaubt, sondern auf den Glaubensakt, das Vertrauen. Das Vertrauen, dass es Heilung gibt, Heilung durch Gott und durch Menschen, die Gott besonders nahe stehen.

Das ist also die eine Möglichkeit, mit dieser Geschichte umzugehen. Eine andere Möglichkeit ist, tiefer zu bohren, unter die Oberfläche dessen, was damals vielleicht geschehen ist. Und zu fragen: Was bedeutet es denn für uns heute, dass Jesus a) Sünden vergibt und b) Menschen heilt, sie aus ihrer Lähmung befreit?

Und – wie kommt es überhaupt, dass Jesus von Sünde spricht? Man muss sich das einmal vorstellen: Da nehmen die Freunde dieses Mannes diese Mühen in Kauf, um ihn zu Jesus zu bringen, und es ist ja offenkundig, was von Jesus erwartet wird. Aber er sagt nicht etwa: Sei gesund! Er sagt: Dir sind deine Sünden vergeben. Ich kann mir vorstellen, wie verblüfft und auch enttäuscht die Freunde sind, die da oben auf dem Dach liegen und durch das Loch hinunterlugen, was jetzt passiert. Sie hoffen, sie glauben: Gleich macht er unseren Freund gesund. Und dann sagt dieser Jesus: Dir sind deine Sünden vergeben. Na so was. Davon war doch gar nicht die Rede. Sie wollten doch, dass ihr Freund wieder gehen kann. Stattdessen redet Jesus von Sünde. Thema verfehlt, werden sie sich gedacht haben.

Aber ich glaube nicht, dass Jesus das Thema verfehlt hat. Nicht nur, weil ich als Pfarrer sozusagen sowieso davon ausgehen muss, dass Jesus immer Recht hat. Nein, ich denke, es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem, was in der Bibel Sünde heißt, und dem Gelähmt-Sein. Aber Vorsicht! Dieser Zusammenhang heißt ganz bestimmt nicht: Wer buchstäblich nicht gehen kann, wer im Rollstuhl sitzt oder nicht aus dem Bett kann, weil ihn die Beine nicht tragen, der wird irgendwie für seine Sünden bestraft. Nein, ganz bestimmt nicht.

Um den Zusammenhang zu erläutern, den Jesus hier feststellt, möchte ich erst einmal etwas zum Begriff Sünde sagen. Das, was die Bibel mit dem Wort Sünde meint, hat nur sehr wenig zu tun mit dem, wie wir heute dieses Wort gebrauchen. In unserem heutigen Sprachgebrauch sieht es ungefähr so aus: Sünde, das ist etwas, was verboten ist, aber weil es Spaß macht, ist es auch nicht so schlimm, wenn man trotzdem sündigt. Kaloriensünder, Parksünder, die kleinen Sünden des Alltags, das sündige Weib… eben, alles, was Spaß macht, aber nicht erlaubt ist. Weil es als unmoralisch gilt oder weil es dick macht. Aber eigentlich… eigentlich ist das alles nicht so schlimm.

Die Bibel meint etwas ganz anderes. Wenn in der Bibel von Sünde die Rede ist, geht es gar nicht um bestimmte Handlungen oder Unterlassungen. Es geht darum, dass die Grundausrichtung des Lebens verkehrt ist.

Wir Menschen sind an sich als offene Wesen gemeint und angelegt. Offen für unsere Mitmenschen, offen für neue, vollkommenere Versionen unser selbst, offen für das, was wir „oben“ nennen, obwohl wir natürlich genau wissen, dass Gott nicht „dort oben“ wohnt. Offen sein, das heißt neugierig sein auf das Leben. Offen sein heißt, vertrauensvoll mit den anderen umgehen. Offen sein heißt, immer die Möglichkeit mit einbeziehen, dass es neue, unerwartete, überraschende Wendungen gibt im Leben, und sich daran zu freuen.

So werden wir geboren. Und so sind wir gemeint. Nun ist das so eine Sache mit dieser Offenheit. Wer so lebt, wird ziemlich rasch die Erfahrung machen, dass seine Offenheit ausgenutzt wird, oder missbraucht wird. Und so machen wir zu. Wir richten uns nicht mehr auf die anderen aus und auf die vielen Möglichkeiten, die das Leben bietet, sondern wir ziehen uns zurück, richten uns auf uns selbst aus, verkrümmen uns in uns selbst, wie Augustinus sagt und in seiner Folge Martin Luther. Statt offen und liebevoll auf unsere Mitmenschen zuzugehen und uns alles von Gott zu erwarten, bleiben wir bei uns, kreisen um uns, um uns selbst als Zentrum – wir werden ego-zentrisch, misstrauisch, ängstlich.

Das ist unvermeidlich. Es ist kein moralischer Makel, den manche haben und manche nicht. Wir alle sind so. Deswegen spricht die Tradition von der Erbsünde. Wir können nicht so sein, wie wir gemeint sind, weil wir in Verhältnisse hineingeboren werden, die es nicht zulassen, dass wir immer und in jeder Gelegenheit offen und liebevoll sind. Das ist nicht unser individuelles Versagen, sondern gehört zum Menschsein in dieser Welt. Das meint das seltsame Wort „Erbsünde“.

Und so verfehlen wir unser Ziel. Wir halten fest an alten Verletzungen, machen uns selbst und den anderen Vorwürfe, ausgesprochene und unausgesprochene, wir bleiben weit unter unseren Möglichkeiten, weil wir nicht herausgehen aus dem Schneckenhaus, weil wir meinen, uns schützen zu müssen.

Das ist die Sünde. Nicht eine einzelne dumme oder böse oder unmoralische Tat, sondern die falsche Ausrichtung unseres Lebens.

Und diese Sünde lähmt. Nicht körperlich. Sie lähmt unsere Liebe. Unsere Kraft. Unsere Initiative. Sie lähmt unsere Fähigkeit, die zu werden, die wir sind. Diese Sünde macht uns unbeweglich, so dass wir in unserem Schneckenhaus sitzen und unseren Nabel betrachten aus Angst, wieder verletzt zu werden. Diese Sünde trennt uns vom Leben, und so stimmt es durchaus, wenn Paulus sagt: Der Tod ist der Sünde Sold, das heißt, die angemessene Entlohnung. Wer nicht lebt, ist tot. Wer sich in sich selbst verkriecht und mehr sich selbst im Sinn hat als die anderen, lebt nicht.

Gottseidank ist das nicht die ganze Wahrheit. Es stimmt zwar, dass wir alle in dieser Weise gelähmt sind. Aber es gibt ja unsere Freundinnen und Freunde, die uns tragen können. Und es gibt die Vergebung.

Vergebung heißt: Du bist nicht festgelegt auf deine alten Verletzungen. Du kannst von vorn anfangen, jeden Tag, jede Minute. Du hast die Wahl: Du kannst aus deinen schlechten Erfahrungen lernen und sagen: nie wieder. Nie wieder wage ich es mit der Liebe, mit der Offenheit.

Oder du kannst sagen: Jetzt erst recht.

Dazu ruft Jesus den Gelähmten. Er sagt: Dir ist vergeben. Deine Vergangenheit bestimmt dich nicht. Du kannst aufstehen und gehen, ja mehr noch: du kannst aufstehen und nach Hause gehen, dorthin, wo du so sein kannst, wie du gemeint bist. Du darfst zu dir selbst kommen.

Jesus zeigt uns, wie wir leben können, im Jetzt, im Augenblick, im ewigen Nun. Nicht festgelegt und gelähmt durch die Vergangenheit, nicht gelähmt durch die Sorge, die Angst vor der Zukunft. Frei können wir sein für die Gegenwart, für den Menschen, den uns das Leben in dieser Minute über den Weg schickt.

Das geht natürlich nicht von jetzt auf gleich. Die Wundergeschichten zeigen uns, wie es sein könnte. Aber sie zeigen uns sozusagen das Ziel eines langen Weges. Denn unsere schlechten Erfahrungen können wir nicht so einfach ablegen. Sie haften uns an, sie verfolgen uns auf Schritt und Tritt und es kostet Mühe und Übung, sie loszulassen.

Deswegen ist es gut, von anderen das Wort zu hören: Dir ist vergeben, steh auf und geh. Die Schriftgelehrten in der Geschichte sagen: Das geht doch nicht. Nur Gott kann vergeben. Und Jesus zeigt ihnen, dass nicht nur Gott vergeben kann, sondern der Menschensohn.

Der Menschensohn. Wir sind es gewohnt, dieses Wort als Beinamen Jesu zu verstehen. So als ob Jesus immer von sich in der dritten Person redete, wenn er vom Menschensohn spricht. Es kann aber auch ganz anders sein. Das hebräische Wort „ben“ oder auf Aramäisch: „bar“ bedeutet zwar tatsächlich „Sohn“. Jeschua ben Josef, Jesus, Sohn des Josef. Aber das Wort heißt noch viel mehr. Das Hebräische denkt vieles in Familienbeziehungen, wo wir gar nicht an Familien denken würden. „Ben“ ist dann so etwas wie eine Gattungsbezeichnung. „Ben Jisrael“, „Sohn Israels“, heißt dann einfach: Israelit, Angehöriger des Volkes Israel. Oder der „Sohn der Fremde“ ist ein Ausländer. Dieses Wort „ben“ heißt also auch einfach „Angehöriger, Zugehöriger zu einer bestimmten Familie oder Gattung“.

Ben Adam, Sohn des Menschen, heißt also eigentlich ganz einfach „Mensch“, ein Angehöriger der Gattung Mensch.

Und wenn wir das jetzt anwenden auf das, was Jesus sagt, dann heißt das: „Damit ihr aber seht, dass der Mensch Vollmacht hat, Sündern zu vergeben auf Erden…“ Sünden zu vergeben wäre dann etwas, was allen Menschen möglich ist und – was allen Menschen aufgetragen ist.

Ja, wir dürfen und wir sollen einander das zusagen: Dir ist vergeben. Du darfst neu anfangen. Steh auf, geh. Nimm dein Bett, dein Krankenlager, nimm das, was dich bindet, heb es auf, nimm es in die Hand und geh. Benutze deine Kraft, benutze deine Liebe. Hab Vertrauen. Lebe.

Und wenn du dabei auf die Nase fällst, wenn du scheiterst, dann lass dich nicht entmutigen und lähmen. Lass das Vergangene los, so gut du kannst, und richte dich aus auf die Gegenwart, auf diesen Moment. Fang neu an. Dir ist vergeben. Geh, beweg dich, sei lebendig.

Da haben wir eine große Aufgabe, wenn wir das ernst nehmen. Uns und andere zu ermutigen, neu anzufangen. Nicht aufzugeben. Zu vertrauen.

Wo dieses Vertrauen wächst, das aus der Vergebung lebt, aus der Ermutigung und aus dem Zuspruch: du kannst es! – wo dieses Vertrauen wächst, da werden Wunder möglich. Wir müssen es uns nur sagen lassen und dann – aufstehen, gehen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Bruder, dem Herrn. Amen.

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